Heute wäre es soweit gewesen. – Immer dieser Konjunktiv… “hätte hätte Fahrradkette”? – Das müssen wir erklären: Einer unserer ersten Abonnenten, Günter Weber, denkt seit Jahren in Fotoprojekten und realisiert diese eigenständig. Eins seiner Projekte heisst “Authentic Humans”. Und eben dieses Projekt sollte heute Mittag in der Alten Schule von Sessenbach mit der Releaseparty zu seinem gleichnamigen Buch seinen Höhepunkt finden. Da wir Günter schon mehrfach getroffen haben, waren wir sehr erfreut, zu dem Corona-bedingt kleinen Kreis der geladenen Gäste zu gehören.
Doch manchmal kommt es anders – zumindest anders als man denkt. Als der Bildband gedruckt und seine Einladungen versandt waren, verstarb Günters Vater dort, wo er sich am liebsten aufgehalten hat, seit seine Frau einige Jahre zuvor gestorben war: In seinem eigenen Garten. Der plötzliche Tod seines Vaters und die erst kürzlich erfolgte Bestattung zwangen Günter zu einer schweren Entscheidung: Er musste seine für heute, 16. August 2020, geplante Releaseparty leider absagen.
Der Blick nach vorne
Wenn man über Monate an “Authentic Humans” gearbeitet hat und trotz Corona ein kleineres Eventkonzept hat planen können, dann ist es doppelt bitter, kurz davor den eigenen Vater zu verlieren. Doch Günter ist Optimist, denkt und handelt proaktiv. So hat er mitten in der Trauerphase keine Minute gezögert und einigen fest eingeplanten Teilnehmern sein neuestes Werk noch vor dem eigentlichen Releasetermin zugesandt und anderen angeboten, es persönlich vorbeizubringen oder bei ihm in Empfang zu nehmen.
Wir gehörten zu den postalischen Empfängern und haben uns sehr über diesen wirklich tollen Bildband gefreut. Für ein privates Projekt eines Fotografen, der bisher nicht über eine riesige Reichweite verfügt, sind allein die Eckdaten des hochwertigen Fotobuches beeindruckend: 3,4cm dick, 32,5cm breit, 27,8cm hoch und 1.963 Gramm schwer, teilt sich der Bildband mit dem Untertitel “ungeschminkt und natürlich” in zwanzig Kapitel auf.
Ungeschminkt und natürlich
In seinem Vorwort erklärt Günter, wie er darauf gekommen ist, Menschen ungeschminkt und ohne Filter oder Photoshop abbilden zu wollen. Und wie so oft, kam der Impuls aus der direkten Umgebung des Künstlers. So zeigt wirklich konsequent jedes der zwanzig Kapitel einen anderen Protagonisten. Freiwillige also, die bereit waren, sich ungeschminkt vor Günters Kamera zu stellen und mit ihm auf Reisen zu gehen.
Heute, in einer Instagram-geprägten Welt, dominieren zahlreiche Models den Stream auf den üblichen Social Media Kanälen. Und wer selbst kein Model ist, greift einfach zu einem Filter und manipuliert das Bild. Uns fällt dazu spontan der Stream eines Hobbymodels ein, dessen Namen wir hier nicht nennen wollen. Sie ist eine wirklich nette und hübsch anzusehende Dame, hat eine wundervolle Figur und verfügt über eine durchschnittliche Gesichtshaut. Nicht makellos, aber auch nicht Narben- oder Pickel-übersäht. Warum auch immer stülpt diese Dame über wirklich jedes Foto einen derart krassen Filter, dass es im Gesicht keine Zeichnung mehr gibt und in gewisser Weise ein “Barbie-Effekt” entsteht. Muss man mögen und ist sicherlich Geschmacksache. Für uns im SWAN Magazine sind zu krasse Bearbeitungen übrigens eher ein Ausschlusskriterium bei Bewerbungen.
Ähnlich muss Günter denken. Er hat über seine Projekte so viele Erfahrungen in der Fotografie von Menschen gesammelt, dass es für ihn ein leichtes gewesen wäre, 20 Models für sein Photoproject zu finden. Doch das Gegenteil findet er spannender. Und Recht hat er damit, wie “Authentic Humans” eindrucksvoll beweist.
20 Protagonisten ohne Kameraerfahrung
Jedes seiner 20 Kapitel zeigt einen anderen Menschen “wie du und ich”. Was nur wenige Workshop-Dozenten wagen (Laien als Models einsetzen), macht Günter nicht einmal, sondern jedes Mal. Er macht es sich also nicht leicht. Denn jedes Model würde auf Knopfdruck eine neue Pose zur Verfügung stellen können, jeder Laie vor der Kamera aber nicht.
Und selbst das scheint Günter nicht genug Herausforderung für sein Projekt gewesen zu sein. Er mischt zudem Männlein und Weiblein und lässt (Ausnahme: Kinder) auch keine Altersklasse aus. So wird “Authentic Humans” zu einem Buch über das reale Leben. Kein Kunstwerk, das Supermodels präsentiert, sondern eine Statement für die Natürlichkeit des Menschen.
Beim ersten Durchblättern wurden wir kurze Zeit an unsere lang zurückliegende Kinderkommunion erinnert. Mit fröhlichen Kinderstimmen hatten wir damals gesungen “Die Erde ist schön, es liebt sie der Herr…”. Kirchgänger werden dieses fröhliche und weltoffene Lied vermutlich kennen. Auf “Authentic Humans” passt es von der Stimmung her irgendwie in besonderer Weise.
Fotografische Anleihen
Wer die Fotokunstwerke aufmerksam betrachtet und sich selbst intensiver mit Fotokunst anderer Künstler beschäftigt, der wird vermutlich drei Handschriften hier und da wiedererkennen. Lisa zeigt Günter einmal in einem stimmungsgeladenen Bild über beide Seiten hinweg. Lisa selbst ist (aus unserer Sicht) nicht ganz günstig in der Bildmitte positioniert (die Falz trennt die vordere von der hinteren Kopfhälfte) und brilliert durch Unschärfe. Eine Reminiszenz an den Mann, der T-Shirts mit der Aufschrift “Schärfe gibt’s beim Inder” verkauft?
Laura hingegen präsentiert Günter in einer weitläufigen Werkshalle. Etwas Staub oder Nebel gestalten die Kulisse und ein stylischer Ventilator im Hintergrund erinnern an Kulissen, die Vincent Peters gerne für seine epischen Aufnahmen verwendet.
Gleich zu Beginn gibt es noch Sandra, die vor einem mobilen Hintergrundsystem sitzt, aber wo auch der Raum, in dem der schwarze Hintergrund steht, gezeigt wird. Dieses Stilmittel hat Peter Lindbergh gerne genutzt.
Dass Peter Lindbergh in Günters Fotografien eine besondere Rolle einnimmt, wissen wir schon lange von ihm selbst. Hier in “Authentic Humans” unterstreicht Günter dies mit einem Zitat Lindberghs, welches er ganz am Ende abdruckt: “Du bist schön, wenn Du den Mut hast, Du selbst zu sein.”
Eine einmalige Kombination
Einen besonderen Weg geht Günter auch bei der Kommunikation zu seinem Buch. Täglich auf den Social Media Kanälen einen weiteren Progragonisten vorzustellen, ist heutzutage nichts Besonderes mehr. Darum geht Günter einen Weg, der uns besonders gut gefallen hat: Er hat neben seinem Buch auch noch eine spezielle Website zum Buch entwickelt, die passenderweise so heisst, wie sein Buch selbst: www. authentic-humans.de.
Dort wird klar, warum sein Buch nach dem Vorwort mit einer Playlist beginnt. Und auch dort wird klar, warum Günter selbst in der Playlist als Nr. 21 aufgelistet wird, wo er doch nur 20 Protagonisten in seinem Buch zeigt und von sich selbst keine Fotostrecke eingeplant hat: Für die Website zum Buch hat er einen dreizeiliges Headerbild gewählt, das alle seine Protagonisten zeigen soll. Und 20 lässt sich einfach nicht durch drei teilen… 21 aber schon… und so ergeben sich dann drei Reihen á sieben Portraits. Passt! Denn auch Günter darf sich gut und gerne als “Authentic Human” bezeichnen. Er passt wunderbar in die Reihe hinein und hebt zudem die Männerquote unter den Protagonisten… 😉
Analoge Playlist digitalisiert
Besonders gut gefallen hat uns, dass Günter in seinem Buch von jedem seiner 20 Protagisten den ultimativen Lieblingstitel anzeigt und daraus eine Playlist für das Buch entstehen lässt. Doch auch hier geht Günter einen Schritt weiter. Denn auf seiner Buch-Website zeigt er zu jedem seiner Protagonisten ein paar Bilder und … das Video vom Lieblingsmusikstück seiner Protagonisten.
Es ist also ideal, den Laptop einmal wegzulegen, ihn auf dem kleinen Tisch neben dem Sofa zu platzieren und auf dem Rechner die von den Protagonisten ausgewählten Musikstücke laufen zu lassen und währenddessen gemütlich auf der Couch die Bildergeschichten zu geniessen, die Günter inszeniert und ausgewählt hat.
Nochmal zum Buch an sich
Die beeindruckenden Eckdaten des Bildbandes werden auch durch die schwarzen Vor- und Schlussseiten des Buches zu einem haptischen Erlebnis. Mehr jedoch als das, trägt das von Günter gewählte Papier zu dieser Wirkung bei: 150 Gramm pro Quadratmeter sind bei Profis Standard, bei vielen Hobbyisten jedoch eher unüblich. Das matte und ungestrichene Papier passt wunderbar zu den authentischen Motiven und auch zu den zumeist etwas gröberen Hintergrundkulissen. So ist “Authentic Humans” ein sehr stimmiges Fotobuch, das viele Fotografen, die ausschliesslich auf Fotoworkshops oder Modelsharings mit Fotomodellen arbeiten, als Motivation dazu dienen kann, die Komfortzone zu verlassen und durch eigene Interaktion mit den Protagonisten Fotokunstwerke zu schaffen, die eben nicht hunderte andere Fotografen auch in ihrem Instagram-Feed haben.
Last but not least
Günter hat uns seinen Bildband “Authentic Humans” mit einem handgeschriebenen Brief übersandt. Das allein unterstreicht die persönliche Nähe zwischen den Absender und Empfänger und ist heute, in unserer digitalen Welt selten geworden.
Den traurigen Umstand der postalischen Zusendung beschreibt Günter passend: “Ich hätte meinen Bildband lieber persönlich überreicht. Aber Leben ist eben das, was passiert, während man eifrig Pläne macht.”
So bleiben am Schluss nur noch zwei Rätsel offen: 1. Wer ist “M.”, also die Person, der “Authentic Humans” gewidmet ist. Und was ist mit der Aussage “Ich hätte es so gerne meinem Papa gezeigt. Er wäre mit Sicherheit sehr stolz gewesen.”
Beides werden wir nicht hier, sondern mit Günter persönlich besprechen. Denn gerade in schweren Zeiten ist menschlicher Kontakt ganz ganz wichtig.
Interesse geweckt?
“Authentic Humans” kann gerade für Fotografen, die sich an ein persönliches Projekt heranwagen wollen, eine wunderbare Inspirationsquelle sein. Aus erster Hand wissen wir, dass es noch einige wenige Exemplare von der Kleinserie des Buches gibt. Bei Interesse empfehlen wir eine Kontaktaufnahme mit Günter per E-Mail. Er antwortet stets umgehend und freut sich in diesen Stunden über jeden Käufer.
Übrigens: Alle hier gezeigten Bilder stammen aus den Shootings, die Günter mit seinen 20 Protagonisten gemacht hat. Sie alle sind jedoch Motive, die in seinem Buch nicht 1:1 wiederzufinden sind.
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