Vor uns liegt ein dicker Schinken: 32×24 cm gross, mehr als zwei Kilogramm schwer und 332 Seiten stark. „People at Work“ ist der dritte Bildband von Günter Weber, den viele unserer Abonnenten spätestens seit Ausgabe 08 kennen. Sein Erstlingswerk „Schenk mir zwei Minuten“ ist längst ausverkauft. Auch „Authentic Humans“ ist zwischenzeitlich nicht mehr verfügbar. Doch jetzt liegt „People at Work“ vor. Aus Insiderkreisen wissen wir: Auch hier ist die Nachfrage gross und die Restmenge schon wenige Tage nach Veröffentlichung klein. Doch beginnen wir von vorne.
Kein Freund grosser Worte
Als wäre es ein versteckter Hinweis auf unsere aktuelle Ausgabe 13 verteilt der leidenschaftliche Peoplefotograf Günter Weber insgesamt 13 Fotostrecken auf 332 Seiten. Lässt man den Begleitbrief, mit dem uns „People at Work“ erreicht hat, unberücksichtigt, so bleibt Günter seiner Linie treu: Buchstaben, Wörter oder gar ganze Sätze muss man in diesem Buch suchen. Klar, jedes Kapitel beginnt mit „etwas Text“, aber kürzer hätte man sich kaum fassen können. Und für alle Korinthen-Ka… : Allein bis hierhin besitzt unser Review schon mehr Worte, als der gesamte Bildband auf 332 Seiten (inkl. Widmung und Editorial).
Photostory
Dafür schenkt der Künstler dem „Leser“ ausreichend Raum, um selbst zu interpretieren und dem Bildband eine eigene Story zu geben. Genau genommen ist jede der 13 Fotostrecken eine Art Entdeckungsreise. Aber es ist keine vorgekaute Geschichte, wie es ein Hörbuch oftmals ist, sondern es ist Futter für beide Gehirnhälften.
Im Falle von „People at Work” lohnt es sich, unsere Wahrnehmung beim ersten „Durchlesen“ einmal genauer zu untersuchen. Dann, wenn Du diesen Bildband selbst vor Dir liegen hast, kannst Du genau das selbst noch einmal nachzuvollziehen.
Jedes einzelne Kapitel funktioniert gleich
Erst wer das komplette Buch durchgelesen hat, wird vermutlich verstehen, dass eigentlich jedes der 13 Kapitel nach dem gleichen Muster aufgebaut ist. Doch der Reihe nach:
Erstens: „Deckblatt“
Hier stehen Name, Beruf und Internetpräsenz. Reduziert auf das Wesentliche. Hintergrund schwarz. Rahmung weiss.
Zweitens: „Down to earth“
Das erste Bild holt den Leser ab und läd ihn ein, in die Welt des Protagonisten einzutauchen. Man könnte das erste Bild auch „Oh Gott, wo bin ich hier gelandet“ nennen. Doch das wirkt als geschriebenes Wort viel zu negativ. Das Gegenteil ist der Fall. Bild 1 holt den Leser einfach aus seiner eigenen Blase heraus und bringt ihn schnurstracks in die Welt des Protagonisten. Oft liefert Bild 1 ein Bilderrätsel, dessen Kontext sich erst auf den folgenden Seiten auflöst.
Drittens: „Das ist mein Arbeitsplatz“
Kurz hinter dem Opener kommt die Totale: Günter Weber holt den Leser tiefer hinein in die Szenerie und gibt Einblicke in Alltage, die viele Leser des SWAN Magazines vermutlich nicht kennen. Er zeigt Arbeitsplätze, die im medialen Rummel der Social Media Zeit einfach in Vergessenheit geraten sind.
Viertens: „So arbeite ich“
Auf den folgenden Seiten kommen dann recht schnell Praxisbeispiele aus der täglichen Arbeit der 13 Protagonisten. Unverblümt und ungeschönt wird transportiert, wie gerade in handwerklichen Berufen bis heute Geld verdient wird.
Fünftens: „Das ist mein Werkzeug“
Mittendrin kommen dann Detailaufnahmen, in denen der Fotokünstler Details herausarbeitet, die typisch für den Beruf seiner Protagonisten sind (aber oftmals in der breiten Bevölkerung in Vergessenheit geraten sind).
Sechstens: „Von aussen betrachtet“
Oft, wenn auch nicht immer, baut Günter Weber in seine Photostories auch Perspektiven ein, die ein wenig voyeuristisch von aussen in die Szenerie hineinblicken (oder umgekehrt von drinnen auf die Welt da draussen blicken). Diese Bilder zeigen, mit welchem Geschick Günter Geschichten mit seiner Kamera erzählt, ohne gross Worte aufzuschreiben.
Eine verblüffende Wirkung
„People at Work“ hat bei uns schon zum Ende des zweiten Kapitels einen Wow-Effekt ausgelöst. Dieser stammt von der Faszination, die dieser Bildband auslöst.
Viele unserer Leser sind vermutlich täglich, wenn nicht gar stündlich, auf Social Media unterwegs. Dort dominieren in der optischen Wahrnehmung die ausgesprochen hübschen und jungen Menschen. Sie zeigen sich gerne in bestem Licht, teurer Kleidung, mit modernen Gimmicks (oder nackt). Aber die Realität vieler Berufe wird dort nicht gezeigt. Im Gegenteil: Glaubt man Social Media, so gibt es auf dieser Welt nur Models und Influencer. Egal, wo man hinschaut.
Realität statt Schminke
Günter Weber geht einen anderen Weg. Er zeigt die blanke Realität. Seine Protagonisten haben sich nicht extra schick gemacht. Sie haben nicht aufgeräumt. Sie waren nicht extra beim Friseur. Ja auch Günter hat seine Bilder nicht durch Photoshop gejagt, um seine Photostories an den modernen Bildgeschmack von heute anzupassen. Im Gegenteil: Er zeigt die Welt abseits von Hochglanz und Glamour. Er zeigt „die nackte Wahrheit“ ohne nackte Haut zu zeigen und positioniert sich mit „People at Work“ inmitten des Alltags. Und eben nicht auf dem Sonnendeck eines Luxuskreuzfahrtschiffes.
Eine gesunde Erdung
Der Job des Ofenarbeiters oder auch der der LKW-Fahrerin steht heute sicherlich nur bei ganz wenigen jungen Menschen hoch im Kurs. Insofern wird „People at Work“ vermutlich nicht zum Bestseller bei der Agentur für Arbeit. Aber „People at Work“ gibt tiefere Einblicke in die breite Fächerung unserer Berufswelt. Einer Vielfalt die grösser ist, als vielen Menschen heutzutage vermutlich noch bekannt oder bewusst. Genau darin liegt aber die Spannung dieses Bildbandes begründet.
Egal, ob man die Protagonisten kennt oder eben nicht, entsteht über die Photostories von Günter Weber eine wahnsinnig intensive Auseinandersetzung mit den Berufsbildern – egal wie weit sie vom eigenen Beruf entfernt sind.
Besondere Berufe
Geschickt gewählt hat Günter Weber nicht nur die Protagonisten selbst (sie sind das blanke Gegenteil von Glamour und Schickimicki), sondern auch die Berufe selbst. Dadurch, dass diese Berufsfelder so wenig bekannt sind, entsteht sehr schnell ein Interesse für die Arbeit an sich. Und die Accessoires, die immer wieder in den Bildstrecken zu sehen sind, wecken Neugierde.
Ein sinnlicher Prozess
Besonders aufgefallen ist uns bei diesem Bildband ein sich immer wieder wiederholendes Ritual der Sinnesorgane. Man schlägt einen solchen Bildband auf, blättert zuerst hastig durch ihn durch und sucht nach diesem einen Blockbusterbild. Genau das haben wir beim ersten Durchblättern nicht entdeckt – aber die schwarzen Trennseiten zwischen den Protagonisten haben die Funktion der Vollbremse brillant übernommen. Sie haben den Blätterfluss wirksam unterbrochen.
Gebremst von diesen Trennseiten, beginnt dann der eigentliche Prozess der Sinne. Hände und Augen arbeiten beim Betrachten dieses Bildbandes gewohnt zusammen: Wurde ein Bild „entdeckt“ oder vollständig „erarbeitet“ erfolgt der Befehl an die Hand „umblättern“. Doch bei „People at Work“ ist der Prozess aufwändiger – man merkt es aber selbst erst dann, wenn man bei Kapitel vier oder fünf erstmals die oben beschriebenen sechs Schritte als Metronom identifiziert hat.
Dann nämlich realisiert man, dass jedes einzelne Bild vom Auge erst aus der Totalen heraus analysiert wird und dann in Zusammenarbeit mit der rechten Hirnhälfte ein repetitiver Prozess beginnt, der erst endet, wenn die letzten Details des Bildes begriffen und verstanden sind.
„Verstanden“ ist dabei der Schlüsselbegriff schlechthin. Denn „verstanden“ bedeutet nichts anderes, als dass die rechte Gehirnhälfte die gesammelten Informationen gebündelt an die linke Gehirnhälfte weitergibt. Dort werden die Bilder dann inhaltlich analysiert und -ähnlich wie bei künstlicher Intelligenz- auf bekannte Muster oder wiederkehrende Prozesse hin mit dem persönlichen „Vergangenheitsarchiv“ abgeglichen.
Bei diesem Abgleich werden spannende Assoziationen hervorgeholt. Im Büro der Schmuckdesignerin ist es die vage Erinnerung an einen Töpferkurs, an dessen Ende Ton in einem Ofen gebrannt und so dauerhaft stabil gemacht wurde. Im Friseursalon „Haarmonie“ ist es anfänglich die Frustration, dass Günter hier keine kesse junge Friseurmeisterin zeigt, sondern einen älteren Herrn – aber genau dieser holt die Erinnerung an die ersten Friseurbesuche ohne elterliche Begleitung hervor, die uns zu einem Lokalmatadoren führten, der zwar nicht gut Haare schneiden konnte, aber dafür mit Pomade umgehen konnte, wie ein junger Gott. – Und das heisst: Dieser Bildband wirkt nach!
Verlangsamung
Egal mit welcher Startgeschwindigkeit wir in diesen Bildband einsteigen, so transparent wird es gegen Ende doch, wie sehr die Blättergeschwindigkeit von Seite zu Seite abnimmt. Das liegt zum einen an dem zuvor beschriebenen KI-Algorithmus, aber auch (und vor allem) daran, dass es Günter gelingt, den Betrachter mit auf eine Reise zu nehmen.
„People at Work“ ist nicht einfach nur eine bebilderte „Job description“ aus dem Arbeitsamt, sondern viel mehr so etwas wie ein „heimliches Praktikum“, bei dem der Betrachter in erster Reihe sitzt und dem Chef direkt über die Schultern schauen darf.
Die Einblicke sind tief und eindrucksvoll. Günter gelingt es, den Leser in seinen Bann zu ziehen und sich immer wieder auf’s Neue in ein anderes berufliches Genre entführen zu lassen. Selbst wer mit den gezeigten Berufen nichts anfangen kann, wird hier entdecken, wie vielfältig und abwechslungsreich unsere Berufswelt heute ist.
Fotografisch spannend
„People at Work“ ist auch fotografisch spannend. Hier und da fehlte uns etwas Zeichnung (vor allem in den Weisstönen), doch das tut dem Gesamtwerk keinen Abbruch. Im Gegenteil: Dieser Bildband ist so narrativ gestaltet, wie ein Roman in 13 Akten. Jedes Kapitel ist in sich abgeschlossen und hat trotzdem enorm viel Tiefgang.
Spannend ist vor allem die Bildsprache. Günter wechselt die Perspektiven häufiger als die Unterwäsche. Er gibt so teilweise Einblicke, die man nicht erwartet. Aber genau diese Motive sind es, die „People at Work“ so viel Wirkung spendieren.
Keine Portraits
Was man von einem Peoplefotografen eigentlich immer erwartet, sind klassische oder moderne Portraits. Diese sucht man in „People at Work“ fast vergeblich. Ja, es gibt einzelne Motive, die in diese Richtung gehen, aber im Prinzip ist der Bildband so voyeuristisch und detailverliebt konzipiert, dass es gestellte Portraits einfach nicht geben darf. Konzeptionell super ist dieser Verzicht auf die Selbstdarstellung der Protagonisten, weil es hier genau darum eben nicht geht. Und wenn sich doch ein Portrait in eine Strecke verirrt, so ist dies fast ausnahmslos die letzte Seite – so als wollte der Protagonist sagen „So, nun kennt ihr meinen Job. Zeit, auch mich einmal kennenzulernen.“
Blockbusterbild
Oben sprachen wir von dem einen Blockbusterbild, das unsere Blätter-Fluss hätte Bremsen können. Das gab es im ersten Durchlauf tatsächlich nicht. Beim zweiten (intensiven) Lesen jedoch gab es einige davon. Auch ohne nachzublättern erinnern wir uns an den Antiquitätenhändler, der offenbar mit Kundschaft in seinem Laden steht und seinen Gästen einzelne Exponate zeigt.
Vorne auf dem Tisch stehen Kaffeetassen, die uns den Eindruck geben, dass Protagonist und Fotograf von der Kundschaft beim Kaffeeplausch gestört wurden. Doch wenn der Blick dann weiter nach hinten fällt, wird erst richtig transparent, wie vielfältig das Angebot des Händlers doch ist. Bilder, Vasen, Möbel, Uhren, Emailleschilder, ja sogar ein altes Radio mit Doppelantenne steht auf dem Boden. Erst dann erhascht das Auge inmitten des Antiquariats das Mikrofon mit dem Pop-Schutz. Letzteres wirkt geradezu so, als sei nicht der Kaffeeklatsch mit dem Fotografen unterbrochen worden, sondern der Kunsthändlerpodcast, der hier eben noch aufgezeichnet wurde… dazu würde auch der Kronleuchter passen, der uns erst ganz zuletzt ins Auge gefallen ist.
Für wen ist dieser Bildband genau richtig?
Menschen, die Bildbände als Modelkataloge verstehen, werden hier wohl kaum fündig. Doch gerade für Fotografen, die stets darüber klagen, dass sie keine geeigneten Modelle für ihre fotografischen Projekte finden, ist dieser Bildband ideal: „People at Work“ beweist, dass es natürlich auch auf die Menschen ankommt – aber „People at Work“ schreit förmlich heraus, dass die ganze Welt voll ist voller Geschichten. Man muss die Stories nur aufheben! Man muss sie nur aufheben und so präsentieren, wie Günter Weber das hier tut. Dann sind Model und Followeranzahl egal – denn dann geht es um echtes Storytelling.
Ein genialer Bildband, der vor allem zur Weihnachtszeit ideal ist. Ideal für Menschen, die bereit sind zu reflektieren. Ideal für Menschen, die sich nicht nur an Silvester etwas vornehmen wollen, sondern die in 2022 mit ihren Bildern etwas bewegen wollen. That’s storytelling! Good job, Günter!
P.S.: Alle hier gezeigten Motive sind bisher unveröffentlichte Motive. Keins davon befindet sich im Bildband.
Ingo
Dezember 21, 2021 @ 8:18 pm
Besser hätte man diesen Bildband nicht beschreiben können. Ich habe ihn selber nach der Rezession noch mal bewusst in die Hand genommen, ja es passt perfekt👍Ich war auch „überrascht“, wie man mich als Protagonisten in dem Buch kurz umschrieben hat😂
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