Als wir Pierre Steinhauer zum Interview für Ausgabe 06 trafen, hatten wir Dezember 2019. Die Weihnachtsmärkte hatten geöffnet und von Corona und einer Krise hat kein Mensch etwas geahnt. Es war eins der tiefgründigsten Interviews, die wir bisher geführt hatten. Sowohl Pierre als auch die Redaktion haben nach der Veröffentlichung im Februar 2020 dann Zuschriften aber auch Anrufe erhalten, die uns dazu ermutigen wollen, diesen eingeschlagenen Weg fortzuführen. Neben der Fotokunst interessieren sich doch viel mehr Leser und Abonnenten für soziale Projekte, als man im allgemeinen Strassenbild so mitbekommt. Das freut uns sehr. Denn auch Fotografen können mit ihrer Kunst dazu beitragen, dass diese Welt besser wird.
Besonders die Protagonisten, die Pierre in Ausgabe 06 gezeigt hat, haben sich sehr darüber gefreut, von ihm persönlich ein Exemplar des SWAN Magazines überreicht zu bekommen. Sie alle waren vorab von Pierre informiert worden, dass er einzelne Bilder aus ihrem Shooting für eine Veröffentlichung nutzen wollte und hatten dem zugestimmt. Doch vermutlich hatten die meisten von ihnen erwartet, dass es irgendwo in einer Lokalzeitschrift einen kleinen Presseschnipsel geben würde – dass sie selbst einmal Teil eines Fine Art Fotomagazins werden könnten, hatte offenbar keiner von ihnen erwartet. – Das sind sie, die Überraschungen, die wir so lieben… 😉
Doch zurück zu Pierre’s Interview: Unser Gespräch mit ihm war so ausgiebig, sodass wir nur die spannendsten Teile in der Printausgabe abdrucken konnten. Hier in unserem Blog haben wir noch zahlreiche weitere Dialogteile zusammengetragen, die einen Eindruck darüber vermitteln, wie Pierre denkt und handelt. Und was ihm in seinem nebenberuflichen Fotografenalltag so alles passiert.
SWAN Magazine: In der Ausgabe 06 hast Du erläutert, wie Du von der Hochglanz-Cover-Fotografie dazu gekommen bist, „Menschen statt Models“ zu fotografieren. Abstecher in die klassische Modelfotografie machst Du heute dann gar nicht mehr?
Pierre Steinhauer: Nein, fast gar nicht mehr. Ich konzentriere mich auf Anfänger!
SWAN Magazine: Gerade Fotografen sind sehr oft emotionale Menschen. Stefan Beutler zum Beispiel, den wir in Ausgabe 04 vorgestellt haben, hat Deinen Namen im Interview genannt. Er sagte: „Ich ziehe echt meinen Hut vor Pierre, wenn er sagt: Auch diese Menschen können hübsch und sexy sein.“ Was er damit ausdrücken wollte war Folgendes: „Ich könnte sowas nicht.“ – Wie machst Du das?
Pierre Steinhauer: Ja, ich weiss was Stefan meint. Ich sage aber grundsätzlich: Alle Menschen sind schön und sexy! Denn auch wenn wir vielleicht sagen „diese Frau finde ich nicht so attraktiv“, so hat auch diese Frau einen Mann, der sie schön und sexy findet.
SWAN Magazine: Stefan Beutler haben wir aufgrund seiner emotionalen Art, Fotos zu machen, gefragt, ob „Dein Sternenkind“ nicht etwas für ihn wäre. Und er sagte direkt: „Ich könnte sowas nicht. Das bricht mir das Herz.“ Da wir diese Frage schon in Ausgabe 04 abgedruckt haben, mochten wir sie in der Printausgabe der Ausgabe 06 nicht schon wieder thematisieren. Hier im Blog aber schon. Denn eigentlich glauben wir, dass Dir Dein Sternenkind noch viel mehr auf den Leib geschnitten ist, als jedem anderen Fotografen, den wir bisher interviewt haben.
Pierre Steinhauer: Absolut richtig! Eigentlich, also ganz tief in mir drin, weiss ich schon lange, dass ich mich da anmelden müsste. Ich beobachte die auch schon seit Ewigkeiten. Ich bin auch immer wieder auf deren Website unterwegs. Noch vor wenigen Wochen war ich wieder da und habe geweint vor dem Rechner. Das berührt mich hoch emotional. Aber ich weiss auch, dass ich das könnte. Es ist bei mir nur ein Zeit-Ding. Ich habe meinen Job mit festen Arbeitszeiten. Ich fotografiere fast jeden Abend, danach mache ich noch Bildbearbeitung. Und ich mag keinem meiner Bewerber, der vielleicht wochenlang geplant hat, wie er zu mir kommen kann, spontan absagen müssen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass ich dieses Zeitproblem irgendwann nicht mehr sehe und mich dann anmelde. Ich habe mich ja auch schon mehrfach angemeldet und alle Daten eingetragen. Aber ich habe bisher nie den Senden-Knopf gedrückt. Vermutlich bin ich da, wie einige meiner Bewerber. Die schreiben mich auch nicht beim ersten Mal an.
SWAN Magazine: Mit Kindern arbeitest Du aber nicht, oder?
Pierre Steinhauer: Die meisten Menschen, die mich besuchen, sind mittleren Alters. Ab und an, aber eher selten, sind auch Kinder dabei. Wobei mir das Alter meiner Teilnehmer eigentlich egal ist. Ich habe ja auch „Bestager“ im Studio.
SWAN Magazine: Magst Du uns ein Beispiel geben?
Pierre Steinhauer: Ja, ich hatte zuletzt Mark Lewandowski hier. Ein erfahrenes Männermodel.
SWAN Magazine: Stopp! Du sagtest eben, dass Du keine Models mehr fotografierst.
Pierre Steinhauer: Richtig. Mark wollte von mir auch das Gegenteil von seinen typischen Modelfotos. Deswegen ist er zu mir gekommen.
SWAN Magazine: Das zeigt sich ja spannenderweise auch in den Kommentaren, die man Dir unter Deine Fotos schreibt, wenn Du diese auf Facebook veröffentlichst.
Pierre Steinhauer: Ja, richtig. Ich bediene diese Modelszene einfach nicht. Diejenigen, die mir schreiben, sind keine Models, sondern ganz normale Menschen ohne Modelerfahrung. Ich finde ja die Fotografen- und Modelszene eh ganz schlimm. Es gibt keine Community, die so verrückt ist. Dafür darf mich diese Szene auch ruhig hassen.
Nimmst du z.B. Modeleisenbahner, so findest du zufriedene Menschen, die sich gegenseitig feiern, weil sie die Kölner Altstadt so originalgetreu nachgebildet haben. Die stehen rund um die Eisenbahn, strecken ihre Bäuche Richtung Trafo und schauen gespannt zu, wie eine Elektrolok einen Waggon ankoppelt. Sie feiern sich gegenseitig dafür.
In der Fotografie postet jemand ein Bild und niemand fragt sich, was das Bild beim Betrachter auslöst.
Mehr noch: In der Fotoszene stellt man sich die Frage, was man anders gemacht hätte. Also mit welchen Effekten man das Licht hätte formen können oder welches Kabel stört oder oder oder… Und bei mir ist das eben anders. Bei mir stört sowas nicht. Und ich erreiche mit meinen Fotos eben andere Menschen.
Meistens geht es in den Kommentaren, die zu meinen Fotos geschrieben werden, gar nicht um die Fotografie, sondern um die Menschen. Ich habe schon erlebt, wie andere Menschen zu den Herausforderungen meiner Teilnehmer persönliche Tipps geschrieben haben, die ihnen schmerzlindernd geholfen haben. Sowas finde ich klasse. Ich habe doch nur ein paar Fotos gemacht.
SWAN Magazine: Was fasziniert Dich an diesem Fotoszene-untypischen Feedback?
Pierre Steinhauer: Dazu ein Beispiel. Mich hat vor einigen Wochen Grischa angeschrieben. Grischa Georgiew habt ihr in Ausgabe 02 vorgestellt. Er schrieb mich an, weil ihn eine Serie von mir so emotional berührt hat, dass er regelrecht fertig war. Seitdem schreibe ich öfter mal mit ihm. Und wenn man mir schreibt, dass die Betrachter meiner Bilder beim intensiven Studium meiner Fotos weinen mussten, dann sage ich ganz einfach: Was willst du mehr als Fotograf erreichen? Das ist doch viel mehr Wert, als 1.000 Likes unter einem Foto, das 100 andere Fotografen auch schon gemacht haben. – Und solche Reaktionen habe ich einfach nie erreicht, wenn ich ein hübsch anzuschauendes Model im Minirock fotografiert habe.
Für mich ist das heute uninteressante Massenfotografie.
SWAN Magazine: Fasst man die letzten Aussagen zusammen, so sprichst Du mir sehr aus der Seele. Ich frage mich manches Mal, wie verrückt unsere Welt doch ist und nehme immer gerne Instagram als Beispiel. Angefangen hat Instagram damit, dass wir unser Essen mit dem Handy fotografiert haben und das dann gepostet haben. Ein tolles Essen kann etwas Wunderbares sein. Doch den bleibenden Wert hat doch nicht das Essen an sich, sondern die Person, mit der ich dieses Essen geniessen konnte. Die Geschichten, die man sich dabei erzählt hat. Oder der Grund für die Einladung in ein tolles Restaurant. Instagram hat uns beigebracht, die Beweggründe unseres Handelns in den Hintergrund zu verbannen und uns statt mit den Menschen, mit denen wir unsere Zeit verbringen dürfen, ein Wettrennen im Stil von „höher, weiter, schneller, teurer“ zu liefern. Ein tolles Essen? Kann ich auch. Eine neue Tasche von einer Luxusmarke? Habe ich auch… Seht hier, ich war am Wochenende kurz in New York zum Shoppen…
Pierre Steinhauer: Ein wunderbares Beispiel. Und wir Fotografen machen heute mit einer 10.000 Euro-Kamera nur noch Fotos für Instagram, damit die Portraitierten dafür Likes bekommen, mit denen sie dann meinen, etwas Besonderes zu sein… und eben das ist in meinen Bildern anders.
Ich kann von mir behaupten, dass sich diejenigen Menschen, die zu meinen Bildern Kommentare abgeben, sich intensiv mit den Fotos, aber auch mit den Menschen und ihren Geschichten auseinandergesetzt haben. Eine Betrachtungsdauer von 0,5 Sekunden, wie sie bei Instagram üblich ist, kenne ich nicht.
SWAN Magazine: Diese Menschen, die Du für das Magazin auswählst, bekommen bei uns übrigens auch – wenn der jeweilige Künstler das möchtest – jeweils ein Exemplar des SWAN Magazines für sich selbst. Du darfst dann entscheiden, ob wir die Exemplare zusenden sollen oder ob Du das selbst tun möchtest.
Pierre Steinhauer: Das finde ich super. Das würde ich gerne selbst machen und wo möglich sogar persönlich aushändigen. Ich möchte die Reaktionen selbst erleben. Darüber freue ich mich sehr. Das wird für alle Beteiligten eine ganz große emotionale Geschichte sein. Und ich bin überzeugt davon, dass es diesen Menschen auch Selbstvertrauen geben wird. Man muss sich das immer wieder bewusst machen: Da kommt ein Mensch zu mir, der sitzt im Rollstuhl. Dieser Mensch ist überfahren worden und der Grossteil der Bevölkerung schaut weg, wenn dieser Mensch um die Ecke gefahren kommt. Stell dir vor, was es für einen solchen Menschen bedeutet, plötzlich in einem Fine Art Magazine zu erscheinen…
SWAN Magazine: Wenn Du das alles so stringent verfolgst, drängt sich natürlich eine ganz andere Frage auf: Wie kommt es, dass es ab und an auch Farbfotos in Deinem Portfolio zu sehen gibt. Sind die dann in einem anderen Raum entstanden? Farbe als Symbol für das Verlassen des bekannten Fotostudios?
Pierre Steinhauer: Nein, die entstehen auch hier. Aber wie soll ich das erklären? Ich fotografiere ja grundsätzlich sehr unterbelichtet. So unterbelichtet übrigens, dass man auf dem Display kaum etwas sieht. Darum zeige ich auch keine Fotos während des Shootings. Ich liefere dafür die Fotos immer am gleichen Abend digital aus.
SWAN Magazine: Warum zeigst Du denn keine Fotos? Man sagt doch, dass gerade unerfahrene Teilnehmer Vertrauen schöpfen, wenn sie zwischendurch mal sehen können, welche Fotos herauskommen. Sie gewinnen so Vertrauen in den Fotografen und werden lockerer.
Pierre Steinhauer: Ja, das sagt man. Aber da habe ich nichts von. Meine Teilnehmer sollen das Shooting komplett unabgelenkt und emotional hier erleben und dann das Shooting als Ganzes zuhause und in Ruhe anschauen können. Mir ist es wichtig, dass sie sich beim Betrachten der Ergebnisse selbst neu entdecken.
SWAN Magazine: Nochmal zurück zu Farbe und Schwarzweiss.
Pierre Steinhauer: Apropos „nochmal zurück“. Ich habe im Hauptteil des Interviews ein Vorbild vergessen: David Lynch. Er ist ein ganz großes Vorbild für mich.
SWAN Magazine: Ok spannend, aber nun nochmal zurück zu Deinen Farbserien. Wie kommt es dazu?
Pierre Steinhauer: Wie erkläre ich das? Ich habe ein Faible für rot. Ich mag rot einfach, deshalb kam ich gerade nochmal auf David Lynch! Rot mag ich besonders in Kombination mit schwarz. Ganz besonders im Düsteren mag ich rot. Ich habe z.B. zwei Cardigans hier im Studio, die ich meinen Besucherinnen gebe. Dann haben sie nichts weiter an, als ihren BH und einen der beiden Cardigans. Einer ist dunkelrot, einer hellrot. Und dann schaue ich mir die Bilder am Rechner erst einmal in schwarzweiss an. Und manchmal denke ich dann „schaue doch mal, wie das in Farbe wirkt“. Und dann stelle ich fest, dass mir Farbe in der Serie besser gefällt. Und dann gibt es die Fotos eben in Farbe. Ich zeige Dir mal welche.
Das z.B. ist Lena. Die mit den kurzen Haaren, die ihre langen Haare gespendet hat. Über die wir in der Printausgabe des SWAN Magazines schon sprachen. Und jetzt siehst Du hier, dass ich diese dunklen Bilder mit dem roten Cardigan unheimlich stark wirken. Und manchmal finde ich auch beide geil. Farbe und schwarzweiss. Das entscheide ich spontan. Aber zwischendurch brauche ich auch mal Farbe.
SWAN Magazine: Das heisst, Du entscheidest immer fallweise?
Pierre Steinhauer: Nein. Eigentlich habe ich entschieden „immer schwarzweiss“. Aber manchmal sehe ich Bilder, wo ich denke, dass ich dem Bild damit etwas nehmen würde. Aber wenn ich Farbe mache, dann ist es fast immer rot-schwarz.
SWAN Magazine: Wie sieht denn eine typische Bewerbung bei Dir aus? Bewerben sich die Menschen mit ihren Geschichten und Schicksalsschlägen bei Dir oder verraten sie Dir ihre persönliche Geschichte erst während des Shootings?
Pierre Steinhauer: Die Bewerbungen, die später auch etwas werden, beginnen zumeist damit, dass sich die Bewerber dahingehend outen, dass sie mir schreiben, mich und meinen Veröffentlichungen schon lange zu folgen. Sie schreiben auch oft, dass sie lange überlegt haben, aber sich nur einmal trauen. Viele warten übrigens Monate, bis sie sich bei mir bewerben. Und ich habe da mal nachgefragt. Die Sorge von mir abgelehnt zu werden, treibt Viele umher. Ich verstehe das aber nicht. Ich mache diese Fotos ja doch sehr regelmässig.
SWAN Magazine: Nun, ich denke, diese Zurückhaltung liegt nicht an Dir, Pierre, sondern vielmehr darin begründet, dass diese Menschen teilweise schon seit Jahren erleben, dass sie von anderen Menschen abgelehnt werden und keine Lust mehr haben auf zusätzlich Enttäuschung. Denkst Du nicht?
Pierre Steinhauer: Ja, das stimmt. So habe ich das noch gar nicht gesehen. – Aber dann folgt in den Bewerbungen meist ein Ausschnitt aus den persönlichen Erlebnissen. Ich bewerte diese Erlebnisse aber nicht. Ich finde genau das interessant und möchte mehr erfahren. Und meistens gibt es dann auch viel mehr zu erzählen, wenn die Teilnehmer zu mir kommen. Und das liebe ich einfach. Es macht mir Spass, mich mit fremden Menschen zu unterhalten und ihr Selbstwertgefühl mit besonderen Fotos zu stärken.
SWAN Magazine: Lehnst Du denn auch Bewerber ab?
Pierre Steinhauer: Ich will das mal so beantworten. Zuallererst bekomme ich -seit ich so fotografiere- keine Anfragen mehr nach dem Motto „Ey, Bock zu shooten?“. Mir schreibt jeder ein paar Zeilen. Ich weiss, welche Überwindung es kostet, sich zu offenbaren. Und ich finde es sehr beachtlich, was diese Menschen mir einfach so schreiben. Wenn ich spüre, dass sie sich wirklich öffnen wollen und bereit dazu sind, Fotos mit mir zu machen, dann machen wir einfach einen Termin.
Hier profitiere ich ja davon, dass mein Studio direkt im Gebäude ist. Ich brauche also nicht fahren. Ich habe meine Kamera hier. Also kann ich direkt loslegen.
SWAN Magazine: Uns würde interessieren, ob Deine Bewerber mal berichtet haben, wie für sie so der Bewerbungsprozess war.
Pierre Steinhauer: Nein, das ist nur selten am Ende eines Shootings kurz ein Thema. Aber ich weiss, dass ich Teilnehmer habe, die mich über Monate verfolgen. Die unzählige meiner Veröffentlichungen brauchen, um selbst zu entdecken, dass sie sowas auch machen wollen. Ich weiss auch, dass diese Menschen teilweise Wochen brauchen, um sich ein Herz zu nehmen, mir zu schreiben. Ich glaube sogar zu wissen, dass manche Mail schon 10x geschrieben wurde, 10x verworfen wurde und dann doch irgendwann abgeschickt wurde und dann eine Hundertstelsekunde später die Sorge immens ist, abgelehnt zu werden. Man darf ja auch nicht vergessen, dass sich diese Menschen via Facebook oder E-Mail bei mir bewerben. Das ist ja kein vertraulicher Brief, sondern eine Nachricht mit ganz vielen persönlichen Informationen, von der jeder weiss, dass das Internet diese Nachricht nicht vergisst und es bestimmt irgendwann irgendwen geben wird, der sie zufälligerweise entdeckt oder entschlüsselt.
SWAN Magazine: Addiere ich einmal zusammen, was Du bisher berichtet hast, so sehe ich gewisse Parallelen zu der nächtlichen Talksendung beim WDR, die Jürgen Domian über Jahre gemacht hat.
Pierre Steinhauer: Ja, absolut. So wie er, weiss auch ich nie, was im Laufe des Shootings auf mich zukommt. Vielleicht mit dem Unterschied, dass Domian eine große Crew im Hintergrund hatte, die ihn auch spontan unterstützen konnte.
SWAN Magazine: Wenn wir die Parallele zu Jürgen Domian nochmal näher betrachten: Hast Du nicht auch manchmal das Gefühl, Du müsstest Deine Teilnehmer nach dem Shooting in professionelle Hände übergeben, um diesen Menschen zu helfen?
Pierre Steinhauer: Nein, spannenderweise nicht. Die meisten meiner Teilnehmer haben diese professionelle Hilfe entweder schon gehabt oder stecken genau in einem solchen Prozess drin. Ich denke, meine Fotos sind hier und da sogar ein Instrument zum Selbstfindungsprozess, weil ich eben nicht retuschiere und aus jedem Menschen versuche, ein Model zu machen.
SWAN Magazine: Kannst Du denn ab und an selbst helfen?
Pierre Steinhauer: Meine Möglichkeiten sind begrenzt und ich möchte nicht die Rolle eines Psychologen übernehmen. Das kann ich nicht und das bin ich nicht.
Ich mag aber noch ein Beispiel geben. Ich hatte zuletzt Besuch von einem Mann. Weit über zwei Meter gross, selbst Fotograf, verheiratet, ein behindertes Kind. Leidet seit 30 Jahren unter Mobbing und ist seit 30 Jahren in der gleichen Firma. Sein Eindruck: Haus, Ehe und Kind zwingen ihn, das Martyrium fortzusetzen, um den Lebensunterhalt der Familie sicherstellen zu können. Dem habe ich gesagt „Mensch, du glaubst nicht, wie viele Jobs ich schon hatte und wie oft ich gegangen bin, als ich merkte, das ist nichts für mich“. Doch dann sitzt da ein 2,10 Meter-Mensch vor dir und weint wie ein Kind. Denen rate ich dann auch, sich professionell unterstützen zu lassen. Doch das ist eher die Ausnahme.
Vielleicht ist ein Punkt noch wichtig zu erwähnen: Wenn ich im Rahmen der Bewerbungen merke, dass die Menschen das, was sie sind oder dass was sie haben, nicht akzeptieren wollen, dann lade ich sie nicht zum Shooting ein. Dann lasse ich das auslaufen. Wenn z.B. jemand schreibt, dass er noch nicht sicher ist, ob er die Bilder veröffentlichen mag, weil er ja so sehr unter seinem Lebensweg oder den Erlebnissen leidet, dann weiss ich genau, dass sich diese Menschen im Gespräch bei mir auch nicht vollständig öffnen werden. Dann werden meine Fotos auch nichts. Darum mache ich das nicht. Und wahrscheinlich bringt mir diese Vorselektion den Vorteil, dass diejenigen, die Hilfe bräuchten, aber diese noch nie in Anspruch genommen haben, schlussendlich bei mir nicht auftauchen.
SWAN Magazine: Wie viele „Menschen-Shootings“ dieser Art hast Du denn schon gemacht?
Pierre Steinhauer: Puh, das kann ich nicht genau sagen. Über 100 auf jeden Fall. Die Anzahl ist auch nicht wichtig.
SWAN Magazine: Also über 100 in sechs Jahren?
Pierre Steinhauer: Nein, über 100 in den letzten 18 Monaten. Davor habe ich das nur ab und an gemacht. Vielleicht einmal im Monat. Seit ich auf Social Media aktiv bin, wird das viel mehr. Jetzt, in den Wochen vor Weihnachten, habe ich im Prinzip fünf Shootings pro Woche. Fast jeden Wochentag eins. Da freue ich mich immer sehr drauf.
SWAN Magazine: Macht das süchtig?
Pierre Steinhauer: Huh, das ist eine gute Frage. Ja! Ich denke, ja. Irgendwie schon.
SWAN Magazine: Und was genau macht daran süchtig? Nun wieder etwas auf Social Media posten zu können?
Pierre Steinhauer: Nein!!! Das gar nicht! Der menschliche Kontakt ist es. Diese Stunden mit einem anderen Menschen sind sehr intensiv und bereichern mich. Ich spreche ja immer von zwei Stunden Shooting. Manchmal sind es auch drei. Dann haben wir vorher geschrieben. Dann mache ich die Bildbearbeitung. Auch danach gibt es immer wieder Kontakt. Das was ich da mache, ist sehr dialogisch. Und hinter jedem Menschen steckt eine andere Geschichte.
SWAN Magazine: Was machst Du denn als Erstes, wenn Du nach dem Shooting nach Hause kommst?
Pierre Steinhauer: Mich hinsetzen und die Bilder bearbeiten. Ich bin dann ja noch voll in der emotionalen Achterbahnfahrt des Shootings drin. Diesen Mood nutze ich auch, um die Bilder zu bearbeiten. Meine Bildbearbeitung nutzt also die Stimmung, die ich mit nach Hause nehme. Und erst wenn die Bilder fertig sind, ist der Job abgeschlossen für mich. Dann erst beginnt mein Feierabend.
SWAN Magazine: Wie wichtig ist für Dich die Kombination aus Bild und Text?
Pierre Steinhauer: Unverzichtbar!
SWAN Magazine: Du lebst also Bildergeschichten.
Pierre Steinhauer: Ja, nichts anderes!
SWAN Magazine: Und Deine Tattoos auf beiden Armen sind auch Bildergeschichten?
Pierre Steinhauer: Nein. Meine Tattoos sind mein Wesen! Das ist alles Disney. Peter Pan, Beauty and the Beast. Mickey Mouse. Pinocchio. – Irgendwelche Totenköpfe, asiatischen Schriftzeichen oder drachenähnliche Kunstfiguren könnte ich nicht tragen. Disney ist mein Leben. Ich liebe diese Filme seit Kindertagen. Ich mag diese Fröhlichkeit, die die Filme versprühen. Ich mag auch die Botschaft, die Disney-Filme an Kinder rüberbringen. Dass Disney ein Weltkonzern ist und die geilsten Anwälte der Welt besitzt, blende ich dabei bewusst aus.
Ich bin ja auch seit 1992, also dem Jahr der Eröffnung des Disney Land Paris, jedes Jahr mehrfach dort. Ich habe eine Jahreskarte. Ich war lange auch Disney Aktionär. Ich habe eine Special-Clubkarte, die mir Zutritt zu Bereichen gewährt, wo normale Besucher gar nicht reinkommen. Das muss ich immer wieder machen. Ich fahre da hin und bin dann vier Tage komplett in meiner Welt.
SWAN Magazine: Mit Sohn und mit Kamera?
Pierre Steinhauer: Mit Sohn ja. Aber seit vielen Jahren nicht mehr mit Kamera. Meine Kamera brauche ich da nicht. Da bin ich ja dann selbst ein bisschen Kind.
SWAN Magazine: Kommen wir zu Deinem Studio. Als wir am Telefon den Interviewtermin für Ausgabe 06 abgestimmt haben, hast Du mich neugierig auf Dein Studio gemacht. Ich hatte dazu das Gefühl, dass Du Dich nicht mit mir in irgendeinem Café treffen wolltest, sondern mir anstelle dessen unbedingt Dein Studio hier zeigen wolltest. Dabei ist Dein Studio, wenn ich offen und ehrlich sein darf, ein bisschen ein Keller-Verlies.
Pierre Steinhauer: Ja, absolut. Auch der Weg hierhin ist besonders. Im Industriegebiet, unscheinbare Gebäude, dann durch das Warenlager meines Arbeitgebers hindurch. Vorne ein abgelegenes Büro und dahinter mein Studio. Das kommt dem einen oder anderen Besucher bestimmt erst einmal fremd vor. Aber vielleicht brauche ich genau das. Um die Emotionen auszulösen, die ich zeigen will. Aber mein Arbeitgeber sucht ein modernes Bürogebäude. Sowas, wie auch du vermutlich bei deiner Anreise erwartet hattest. Aber eigentlich ist das Studio für meine Besucher völlig egal. Mir hat noch nie jemand Fragen dazu gestellt. Es ist mein Studio. Basta.
SWAN Magazine: Wie sind die Reaktionen Deiner Besucher, wenn Sie Dein rund 20 Quadratmeter grosses Studio das erste Mal betreten? Was spürst Du dann? Ein Gefühl der Befreiung oder ist es eher Beklemmtheit?
Pierre Steinhauer: Das ist denen egal. Die kommen wegen meiner Bilder. Und sie haben ja keine Angst. Bei mir kommen auch fast alle alleine – also ohne Begleitung. Aber Fragen zu meinem Studio bekomme ich eigentlich nie. Dennoch stelle ich mir immer wieder diese Frage, die du mir gerade gestellt hast. Ich bin halt Fotograf und Teil dieser Fotoszene. Ich weiss genau, was bei dem einen oder anderen Shooting oder gerade bei den Vorgesprächen passiert und denke natürlich immer daran. Viele Kamerabesitzer, ich möchte sie gar nicht Fotografen nennen, sind ja rein nacktfixiert und wollen die Modelle teilweise noch weiter drängen. Denen geht es gar nicht um die Fotografie als Kunstform! Aber bei mir hat keiner eine schlechte Erfahrung gemacht, deswegen beschäftigt mich das auch nicht weiter.
SWAN Magazine: Wie sieht Dein 18jähriger Sohn Deine Fotografie?
Pierre Steinhauer: Was sage ich dazu jetzt? Also mache ich es kurz: Der möchte etwas im sozialen Bereich studieren (lacht). Er ist sehr ruhig und sehr weise. Er kennt mich nur so. Ich bin sehr stolz darauf, wie er mit Menschen umgeht. Und er findet meine Arbeit sehr toll, wie er sagt.
Wir freuen uns, dass wir hier drei Fotos zeigen zu können, die an dem Tag entstanden sind, als Pierre das persönliche Belegexemplar der Ausgabe 06 an eine der Damen überreichen durfte, die selbst in der Printausgabe abgebildet sind.
Eine besondere Ehre ist es für uns, hier zusätzlich einen Text von Birgit abbilden zu können, den sie verfasst hat, nachdem sie ihr Belegexemplar erhalten hat.