Vor uns liegt ein dicker Brocken. Ein Druckwerk, das die Bezeichnung „Magazin“ für sich beansprucht, aber genauso gut als Buch durchgehen könnte. 754 Gramm schwer, 320mm hoch, 249mm breit und ziemlich exakt 11mm dick. Das Magazin heisst, wie er selbst: Boris Bethge. Und es trägt einen Untertitel – wie die vorherigen Ausgaben auch. Dieses Mal lautet der Untertitel „Shades of Light„. Und wir begeben uns nun auf die Reise, ob dieser Titel und dieser Untertitel hält, was er verspricht.
Die Kunst zu begeistern
Spätestens seit die breite Masse der Bevölkerung mit dem erfolgreichen Durchbruch des iPods als mobilen Musikplayer gelernt hat, dass Design und Verpackung (Jonathan Ive gewann 2002 mit dem Design des iPod den Red Dot Design Award, wir können bisher nur auf einen German Design Award blicken) ein wesentliches Erfolgselement sind.
Boris Bethge hat das erkannt und auf sein Magazin konsequent angewandt. Das fängt an mit einer Papierwahl für das Cover, welches sich gar nicht nach Papier, sondern irgendwie nach der Verpackung eines neuen iPhones anfühlt. Und das wird gleich mal eine ganze Etage tiefergelegt durch die Prägung des Magazin-Namens, der dem Inhalt seines Personalausweises ziemlich exakt entspricht.
So entsteht durch Gewicht und Grösse, Papierwahl und Prägung schon vor dem ersten Aufschlagen ein hochwertiger Eindruck. Ja, das Cover ist so fest, dass man sich sogar scheut, es aufzuschlagen – oder, um es mit anderen Worten zu beschreiben, man sprichwörtlich den Eindruck bekommt, man würde das Magazin aus einer edlen Schatulle entnehmen, wobei man es nur aufschlägt.
Shades of Light
Der Untertitel kitzelt sofort die Synapsen. Fifty shades of Grey? Nein! Oder doch?
Beginnen wir also mit „grey“ – also dem Teil des Untertitels, der gar nicht Teil des Untertitels ist. Ist „Shades of light“ also ein reines Schwarzweiss-Magazin? Die Rückseite des Covers suggeriert das Gegenteil: Denn das Motiv mit Helena am Strand ist in Farbe. Doch klar, jeder, der sich einmal mit dem Druck von Magazinen oder Büchern beschäftigt hat, der weiss, dass der Umschlag und der Inhalt separate Produktionsschritte sind. Es ist also durchaus möglich, das Cover in Farbe zu gestalten und den Inhalt in Schwarzweiss (und umgekehrt).
Doch was viele Menschen nicht wissen: Auch bei rein schwarzweissen Drucken wird oft ein Farbdruck eingesetzt, um schönere und intensivere Schwarztöne zu erreichen. Hier jedoch ist es anders: Auch im Innenteil erwarten uns immer wieder Fotografien in Farbe. Aber die überwiegende Anzahl aller fotografischen Kunstwerke ist eben doch in Schwarzweiss. In richtig schönem Schwarzweiss. Ein edler Druck!
War es das also mit „Fifty shades of grey“?
Jein! Einen direkten Link zum US-amerikanischen Spielfilm aus dem Jahre 2015 gibt es nicht. Aber gleich das erste Bild schafft eben doch eine Verbindung zu der 21-jährige Literaturstudentin Anastasia Steele. Wer den Gedankengang weiterspielt, der stellt wohl nur die Frage, wer denn dann der Unternehmer Christian Grey ist, bzw. ob er neben oder hinter der Kamera steht… 😉 Aber die Frage erübrigt sich, weil hier keine der Damen ein Interview führt.
„Shades of Light“ hat also nicht die Absicht, ein Erotik-Beststeller zu werden – denn hier geht es um die Fotografie. Und doch zeigt das Magazin mehr weibliche Reize, als wir sie bisher von Boris Bethge wahrgenommen haben.
Neun Fotostrecken plus zweimal „Selected Works“
„Shades of Light“ lebt von der Abwechslung! Überwiegend schwarzweiss und pointiert in Farbe. Strand und Studio. Gegenlicht und harsches Sonnenlicht. Brünette und blonde Damen. Klassische Portraits und Körperdetails. Ein wenig Ballett und etwas Fashion. Mal ist ein Spiegel, mal ein Wildblumenstrauss das geschickt integrierte Accessoire.
Boris Bethge spielt mit Licht und Schatten, setzt klassische Instrumente, wie zum Beispiel Jalousien, als Lichtbremse und gestalterisches Element ein. Er hat sich selbst auf die Probe gestellt: Wo er sonst auf kleinstem Raum selbst seine eigene Frau damit überrascht, wo und wie er denn diesen besonderen Blickwinkel wieder aus seinem eigenen Studio herausgeholt hat, wechselt er in „Shades of Light“ die Locations, wie andere die Unterhosen. Ständig neues Licht, ständig veränderte Kulissen, sehr unterschiedliche Modelle, aber stets hat er die Situation im Griff und vermeidet geschickt die Wiederholung. Denn: Bei neun Strecken liegt genau hier die Gefahr. Er greift nicht in die Trickkiste „welche Pose und Lichtsituation gelingt mir immer“, sondern bewegt sich frei und lässt sich von Location, Model und Kleidung zu immer neuen Motiven hinreissen.
Und trotzdem überrascht er…
Die grösste Überraschung jedoch ist nicht, dass es Farbfotos gibt. Nein, im Gegenteil. Die grösste Überraschung ist der Text! – Uns ist keine andere Ausgabe des Magazins „Boris Bethge“ bekannt, welches so viele Buchstaben verbraucht, wie Numéro zehn. Klar, auf dem kleinen Einklapper der U1/U2 gab es stets einen Text. Aber nun gibt es neben kleinen Kapitel-Trennseiten-Überschriften eine ganze Doppelseite in feuerroter Farbe, als wolle sie uns anschreien „Sehr her, ich kann auch schreiben“.
Boris berichtet hier über die Unterschiedlichkeit seiner einzelnen Magazine, ihre Schwerpunkte und seine Vorliebe für zusammenhängende, fotografische Strecken. Auch er verzichtet vollständig auf Kameratechnik oder gar EXIF-Daten und lässt den Leser bei jedem Bild allein mit der Frage, mit welchem technischen Gerät das einzelne Motiv wohl entstanden ist.
Im letzten Dritten kommt sein Textbeitrag „Anti Social Media“. Boris lässt hinter die Kulissen blicken und macht neugierig auf das, was da noch kommt. Doch die echte Quintessenz steht im Begleitbrief: „Neun Bildstrecken, Selected Works, 17 wundervolle Frauen und 90% der Bilder sind unveröffentlicht“. Damit sprich Boris uns aus der Seele. Denn: Ist es nicht eine Schande, wenn man aufwändig geplant ein hochwertiges Shooting durchgeführt hat, hat Stunden in Bildselektion und -bearbeitung investiert und dann verschwindet diese Arbeit nach wenigen Minuten im Sumpf von Social Media?
Auch wenn Boris mit seinem Magazin vermutlich kein Geld verdienen wird, so erschafft er mit seinem Magazin etwas, was bleibt. Ein Katalog seiner künstlerischen Arbeiten. Ein Fortsetzungsroman. Irgendwie, wie das Leben: Ständig gibt es Kehrtwendungen, neue Erfahrungen und unerwartete Situationen.
Für wen ist Numéro zehn besonders geeignet?
„Shades of Light“ sollte in der eigenen Sammlung dann nicht fehlen, wenn der Sammler eine Vorliebe für junge Damen besitzt und ein Faible für nackte Haut. Doch dieser Satz alleine würde in die Irre führen. Hier geht es nicht um den frivolen Voyeur, sondern Numéro zehn zeigt eindrucksvoll auf, wie man teilweise prickelnde Erotik auf den Sensor bannen kann, ohne dabei billig zu wirken. Denn Boris Bethge gelingt es hier exzellent, sich im Genre der Fotokunst zu bewegen. Denn wer „die blanke Wahrheit“ erwartet, wird in „Shades of Light“ vermutlich enttäuscht.
Sieht man einmal vom Kunstsammler ab, so ist Numéro zehn vor allem für Fotografen interessant, die ihre eigene Komfortzone verlassen wollen und das rund 100 Seiten starke Magazin als Inspirationsquelle nutzen zu wollen. Wie sehr es inspiriert und trotz eigentlich wenig Text eben doch genau das tut, zeigt die Bildstrecke mit Mayté. Sie hat zum Strandshooting einen Damenanzug mitgebracht, den Boris bei einem früheren Shooting mit ihr als zu langweilig abgetan hatte – und nun spielt eben dieser Anzug der Grossmutter von Mayté die Hauptrolle – Seite an Seite mit Mayté selbst.
Besonders gut gefallen hat uns übrigens, wie Boris mit der Schärfe spielt. Nicht alle Bilder sind knackscharf. Manche leben von Bewegungsunschärfe, manche versetzen durch gezielt gesetzte Unschärfe bestimme Körperteile in die Welt der Phantasie. Boris setzt dieses Stilmittel bewusst und selektiv ein. Nie zu viel. Und das ist gut so!
Für wen ist „Shades of Light“ nicht geeignet
Fotobegeisterte, die endlich einmal eine Publikation mit älteren Menschen sehen wollen und denen es wichtig ist, bei den abgebildeten Personen ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern zu erleben, werden in Numéro zehn vermutlich nicht auf ihre Kosten kommen. Die überwiegend monochrom gehaltenen Motive zeigen zwar eine gewisse Zeitlosigkeit, aber der Akualitätsbezug ist bei Boris Bethge ja ganz gewusst gewollt. Er will in jeder Ausgabe seines Magazins neue Shootingergebnisse zeigen. Mehr noch: Er möchte zeigen, wie er sich weiterentwickelt.
Quintessenz
Durch die Namenswahl seines Magazins macht Boris Bethge eins klar: Hier gibt es Bilder von mir und von sonst niemandem! Er zeigt stets abwechslungsreiche Strecken und sagt selbst, dass er über die einzelnen Ausgaben seine persönliche Entwicklung sichtbar machen möchte. Und das gelingt ihm!
Doch was er nicht sagt, aber bei genauerer Betrachtung durchaus auf der Hand liegt, ist etwas ganz anderes: Boris hat (ähnlich wie wir mit dem SWAN Magazine) vom ersten Tag an seine Magazine mit zweistelligen Nummern durchnummeriert. Er hatte sich also zum Ziel gesetzt, mindestens zehn Ausgaben zu erschaffen – und der Punkt ist nun erreicht. Dazu gratulieren wir von Herzen – denn wir wissen, was das bedeutet!
Doch wir möchten auch einen anderen Punkt herausarbeiten: Die Idee, sich selbst mit der konsequenten Nummerierung des Magazins unter Druck zu setzen und über den Titel des Magazins keine fremden Veröffentlichungen zuzulassen, bedarf schon einigem Mut. Mut, den Boris nicht nur mitbringt, sondern auch Druck, dem er sich selbst ausgesetzt hat – und dem er standhält.
Wenn so einer wie Boris (den wir übrigens zuletzt an der SWAN Wall auf der PHOTO POPUP FAIR trafen) sagt, dass er mit dem Magazin auch seine eigene Entwicklung zeigen möchte, so ist dies vermutlich nur 50% der Wahrheit. Denn ein durchnummeriertes Magazin ist auch so etwas wie die Selbstverpflichtung, diese selbst geschaffene Erwartung auch zu erfüllen. Und das ist Boris gelungen. Chapeau!
Übrigens…
Im Titelbild dieses Beitrags befindet sich links das Cover der hier vorgestellten Ausgabe. Rechts seht Ihr einen Artist Print, den wir als freundliche Dreingabe erhalten haben. Dieses Motiv ist nicht Teil des Magazins und ergänzt dieses daher wundervoll. Danke Dir, Boris!
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April 18, 2024 @ 9:03 am
[…] und gibt immer wieder spannende Workshops. Über seine Magazin-Publikationen haben wir bereits das eine oder andere Mal berichtet. Ganz ausführlich haben wir ihn und seine fotografischen Kunstwerke in […]