Anton Corbijn ist einer der ganz Grossen unter den Fotografen des 21. Jahrhunderts. Und dabei hat er klein angefangen. Ganz am Rande der Niederlande aufgewachsen als Sohn eines Pfarrers suchte er früh den Kontakt zur Modewelt – ohne jedoch zu kopieren, was in der Modeszene sonst so üblich war. In seinem Bildband „Moøde“ zeigt er einen Überblick über seine Werke und beginnt anders, als viele andere Bildbände: Anton Corbijn schreibt über sich selbst.
Ein Bildband mit Texten?
Während viele Bildbände mit einem eher knapp gehaltenen Editorial getreu dem Motto „ich danke meiner Frau und meinem Sponsor“ beginnen, startet Anton Corbijn eher schlicht und textlich umfangreicher als andere Fotografen. Vor allem jedoch autobiografisch. Ohne Überschrift steigt er damit ein, wo er aufgewachsen ist und in welche Familiensituation er hineingeboren wurde. Nur eins seiner ikonischen Portraits von David Bowie zeigt er noch vor dieser Einleitung. Quasi ein Appetizer für das, was danach kommt.
„Moøde“ ist für alle, die sich ausführlicher mit dem Bildband beschäftigen, der lebende Beweis dafür, dass es sich auch als Künstler lohnt, den eigenen Weg in der Kunst bekannt zu machen. Denn genau diese Zeilen der ersten beiden Textseiten sind es, die die dann folgenden Werke Anton Corbijns erst richtig verständlich machen. Sie sind das Storyboard für das, was danach kommt.
Vom „Nobody“ zum Fotograf mit Weltruhm
Denn wie so oft ist auch Anton mit eher unbekannten Modellen gestartet. So mag es auf den ersten Bildern verwundern, dass diese mit „Model unknown“ beschriftet sind, aber es beweist eindrucksvoll, wie bodenständig Anton bis heute geblieben ist. Klar, auch die Megastars folgen auf den weiteren Seiten. Aber erst einmal muss man durch diverse Modeshootings durch, bei denen der Künstler eben nicht mehr weiss, wer als „Kleiderständer“ fungiert hat.
Dass Moøde in sich ein geschlossenes Werk darstellt, in dem der Künstler sich sukzessive weiterentwickelt, seine Handschrift über die Zeitachse perfektioniert und sich doch zu seinen Wurzeln bekennt, wird erst richtig klar, wenn man auf der letzten Seite angekommen ist und wirklich vorher seine Einleitung gelesen hat. Diejenigen, die nicht lesen können, mögen sich vermutlich wundern, warum das letzte Kunstwerk „three children“ heisst. Denn es könnte auch heissen „Models unknown“.
Mit drei Kindern schliesst sich der Kreis
Dieses letzte Bild spannt nämlich perfekt den Bogen zurück zu seiner Kindheit an der Künste als Sohn eines Pfarrers: Es zeigt drei dunkelhäutige Kinder irgendwo im Nirgendwo. Sie alle sind bekleidet mit mönchsartigen Gewändern. Während ein Gewand durchaus modische Aspekte berücksichtigt, filigran gestaltet ist und einen sehr guten Gesamtzustand aufweist, sind zwei Gewänder dreckig, alt und geflickt. Die drei Kinder verbindet ein nachdenklicher bis skeptischer Blick. Ein Blick, den man auch sonst gerne auf den melancholisch angehauchten Motiven von Anton findet. Mit diesem Blick wird also eine Brücke geschlagen. Noch mehr Brücke zu seinen Wurzeln wird jedoch dadurch geschlagen, dass alle drei ein vergleichsweise grosses silbernes Kreuz um den Hals tragen. In dem Kreuz kommt der Sohn und Enkel von zwei Priestern deutlich zum Vorschein und mahnt: Alles, auch der Erfolg und die Mode, ist vergänglich.
Zusätzlich: Ein Interview einer Fachfrau
„The Fabric of Life“ ist die Headline zu einem weiteren Text, der sich auf den Seiten 12 und 13 befindet. Karen van Godtsenhoven, die frühere Kuratorin des ModeMuseums in Antwerpen und heutige „Associate Curator“ des Costume Institute at the Metropolitan Museum of Art, hat dazu ein Interview mit Anton Corbijn geführt. Darin geht es um die Modefotografie Corbijns und seine Vorliebe, Menschen dort zu zeigen, wo sie ihre Heimat haben. Karen beschreibt, wie Anton die Mode dazu nutzt, Charaktere mit seinen Bildern zu prägen und erklärt, welche Bedeutung Masken und künstliche Schnurrbärte für Anton haben. Auch dieses Interview, das nicht im Frage-Antwort-Stil, sondern als Monolog präsentiert wird, liefert Anregung dazu, die darauf folgenden Bildern mit einem anderen Blick zu betrachten.
Und in der Tat: Während auch wir oft dazu neigen, einen Bildband beim ersten Betrachten eher schnell und flüchtig durchzublättern, um uns einen Gesamteindruck zu machen, wirkt das Eingangsbild von David Bowie und die beiden danach folgenden Texte wie eine Vollbremsung genau das nicht zu tun. Umso wirkungsvoller wird anschliessend die Betrachtung der Kunstwerke. Klar, da sind Motive bei, die uns schon tausendfach begegnet sind (z. B. Joy Division im U-Bahn-Tunnel von „Lancaster Gate“), aber nun entdecken wir sie neu und sehen sie mit anderen Augen.
Besonders auch in der Haptik
Ganz unterbewusst wird die neue Wahrnehmung auch von der Haptik des Bildbandes „Moøde“ unterstützt. Passend zum Thema des Buches („Moøde“ ist ein Kunstbegriff, in dem Anton Corbijn die Begriffe „Mood“ und „Mode“ verschmelzen lässt) besitzt das im Hannibal-Verlag erschienene Buch keinen klassischen Einband oder Papierumschlag, sondern einen dicken Pappeinband, der mit grau strukturiertem Stoff bezogen ist. Ganz so, als wäre selbst der Einband des Buchs ein Teil eines Kostüms.
Auch das Papier des Bildbandes hat etwas Magisches an sich. Mal fühlt es sich glatt und geschmeidig an, mal rau wie eine mit feinkörnigem Schmirgelpapier bezogene Tapete. Die Haptik kombiniert eine Jeans-artige Aussenhülle mit einem irgendwie unnahbaren Gefühl im Innenteil, der von der Melancholie mancher Bilder zusätzlich untermalt wird.
Moøde ersetzt die Chips zum Rotwein
Moøde ist so ein Bildband, der zu einsamen Stunden und einem schweren Rotwein passt. Untermalt von epischer Musik, die ruhig so laut aus den Lautsprechern dröhnen kann, dass die Nachbarn mithören können. Denn eins beweist Anton mit Moøde eindrucksvoll: Mode ist allgegenwärtig und prägt uns und unseren Alltag mehr, als uns vermutlich bewusst ist.
Viele Kunstinteressierte werden Anton Corbijn vor allem als Künstler schwarzweisser Bilder kennen. Doch auch damit räumt Anton in Moøde auf. Während zu Beginn der Anteil farbiger Motive noch knapp ein Drittel der gezeigten Werke ausmacht, nimmt der Farbanteil im Verlauf des 240-seitigen Bildbandes immer weiter ab. Zeitgleich steigt jedoch der Anteil an Künstlern und Motiven, mit denen er zu Weltruhm kam. Mathematisch betrachtet kombiniert der Bildband also gegenläufige Kurven hinsichtlich Bekanntheit, Farbe und Tiefsinn. Corbijn hat sie in Moøde geschickt arrangiert, um einen Spannungsbogen aufziehen. Gelungen!
Doch für wen ist Moøde genau der richtige Bildband?
Richtig klar lässt sich dies nicht festmachen. Anton kombiniert in diesem Bildband nämlich reine Modeaufnahmen mit ikonischen Portraits seiner Weltstars. Also vor allem Musikern, denen er über Jahre hinweg mit seinen Bildkreationen dabei geholfen hat, Weltruhm zu erlangen. David Bowie, U2, Depeche Mode, Nick Cave, Per Gessle, John Lee Hooker, James Brown, Michael Stipe, Slash, aber auch Natassja Kinski, Christy Turlington und Georgio Armani sind in Moøde zu sehen.
Moøde ist damit vor allem für diejenigen etwas, die seine aktuelle Ausstellung in Knokke-Heist an der belgischen Küste besuchen können. Dort werden nämlich die Kunstwerke ausgestellt, die in Moøde zusammengefasst sind. So ist Moøde auf der einen Seite ein Ausstellungskatalog, auf der anderen Seite aber auch ein Bildband für diejenigen, die Corona-bedingt gerade nicht in den Genuss von Ausstellungsbesuchen sind.
Sicherlich nicht geeignet ist Moøde für alle diejenigen, die mehr über Anton Corbijn hinsichtlich seiner ganzheitlichen Konzertfotografie erfahren wollen. Was genau alles zu seinem Leistungsportfolio gehört, wenn Bands wie U2 oder Depeche Mode bei ihm anklopfen, vermag Moøde nicht einmal im Ansatz zu vermitteln.
Unser Fazit
Moøde ist unser Buchtipp für den Jahreswechsel. Moøde liefert Munition für die Kamera und ist voll gespickt mit Ideen. Wir empfehlen jedem Fotografen zum Buch ein grosses Blatt Papier und einen Bleistift. Jede Idee, die mit Moøde zu Papier gebracht wird, soll in 2021 umgesetzt werden. Und das bevorzugt mit einem körnigen Film in einer analogen Kamera.