In Ausgabe 06 haben wir Hans-Jürgen Oertelt, einen großen Fan von Peter Lindbergh, im Interview vorgestellt. Er berichtete, wie eine Ausstellung nicht nur seine Fotografie, sondern sogar seinen beruflichen Schwerpunkt veränderte. Speziell für das SWAN Magazine hat er eine Photostory mit zwei Modellen entwickelt – eine Hommage an sein letztes Jahr verstorbenes Vorbild.
Der Künstler, der in der Damenabteilung von Zara und H&M persönlich bekannt ist, die Herrenabteilungen aber nur selten besucht, hat in seinem Interview einen herrlichen Überblick über sein Leben gegeben. Statt ihm ergänzende Fragen zu stellen, wollen wir Hans-Jürgen Oertelt hier nun etwas anders präsentieren: Mit seinem Buch „One“.
Eine Monografie über und mit Louisa
Woher Hans-Jürgen Oertelt Louisa kennt und wie es zu diesem Buch kam, beschreibt der Künstler ausführlich im Interview – darum wollen wir uns hier auf „One“ konzentrieren. „One“ ist eine Monographie – also ein Buch, das nur Louisa zeigt. Der Vorteil einer Monographie ist, dass sie zumeist genügend Raum bietet, um eine Person von allen Seiten darzustellen. Der Nachteil jedoch ist, dass Monographien irgendwann auch langweilig werden können. Nämlich dann, wenn sich Motive wiederholen oder sehr stark ähneln.
„One“ ist 280 Seiten stark und damit ein sehr umfangreiches Werk. Der Grundverdacht, dass es bei dieser Seitenanzahl und nur einem Protagonisten sehr schnell langweilig werden kann, liegt daher nahe. Wir sind dem genauer auf die Spur gegangen und haben „One“ unter die Lupe genommen.
One
Mit 2.239 Gramm Gewicht, einer Breite von 24,5 cm und einer Höhe von 32,5 cm ist „One“ ein richtiger „Klopper“. Gewicht und Grösse hinterlassen Eindruck. Und das schon beim Auspacken. Das schwarze Hardcover mit einer Materialstärke von 3 mm unterstreicht diesen Eindruck. Auch das flächig auf der Frontseite abgebildete Foto von Louisa, das dank ihrem schwarzem Rolli nach unten zeichnungsfrei in reinem Schwarz ausläuft, führt zu einer idealen Fläche für den Titel. Selbiger ist in wertigem Silber im unteren Drittel der sogenannten U1, der vorderen Umschlagseite, angebracht. U2 und U3 (die beiden Buchrückeninnenseiten) sind in dunklem Grau gehalten. Und die U4 zeigt das ein kleines Bild, auf dem der Künstler selbst zu sehen ist. Aber nicht alleine, sondern zusammen mit Louisa und seiner Kamera.
Wortkarg
Wer „One“ nach dem Auspacken einmal schnell durchblättert, dem fällt direkt auf: Wenn man U1 und U4 nicht mitzählt, so gibt es nur eine Seite mit Text vom Künstler: Das Vorwort. Wer dieses aufmerksam liest, bekommt schnell den Eindruck, dass es nicht Hans-Jürgens Passion ist, Texte zu verfassen. Der Anfang, in dem er über sich selbst schreibt, wirkt etwas holprig. Flüssiger wird es, als der Künstler über seine Arbeit mit Louisa berichtet. Schmunzeln mussten wir, dass „weniger ist mehr“ im gesamten Vorwort das Einzige ist, was durch Fettdruck und Anführungsstriche hervorgehoben wurde. Doch auch das passt, wie die Faust auf’s Auge. Denn Hans-Jürgen ist Künstler. Er ist Fotograf und kein Belletristik-Autor.
Buchentwicklung im Eigenverlag
„One“ ist -wie wir aus dem Interview mit Hans-Jürgen wissen- in Eigenproduktion entstanden. Also ohne große Buchverlage im Rücken und ohne große Marketingunterstützung. „One“ ist zugleich auch das einzige Druckstück, dass Hans-Jürgen auf seiner Website zum Kauf anbietet. Klar, ein jeder Künstler, der sich für Printprodukt entscheidet, muss einmal anfangen und hat dann zu Beginn nur ein Produkt im Angebot… Für Betreiber von Online-Shops ist dies eine schwierige Ausgangslage, da ihnen meist das Material fehlt, um die Publikation weiterhin interessant zu halten. Aber vielleicht ist genau das der Grund, warum es „One“ weder im Buchhandel zu kaufen gibt, noch eine ISBN aufgedruckt ist, noch irgendwo ein Veröffentlichungsdatum genannt wird. So wird „One“ vor allem eins: zeitlos. Eine bewusste Entscheidung übrigens, wie wir aus erster Quelle erfahren konnten.
Die Kapitelübersicht
Da „One“ nur ein Vorwort besitzt, gibt es auch keine Kapitelübersicht. Auch zwischen den einzelnen Seiten gibt es keine Trennseiten, die das hochwertig gedruckte Fotobuch in Abschnitte unterteilen würde. So besteht „One“ schlussendlich aus einem einzigen Kapitel. 280 nicht paginierte Seiten lang. Für diejenigen Käufer, die „One“ für sich alleine genießen, stellt dies kein Problem dar. Doch Derjenige, der mit einem Freund über das tolle Motiv auf Seite … sprechen möchte, der muss entweder zählen oder gut beschreiben können. Doch Schluss mit der Kritik. Wer ruft schon einen Freund an, um mit ihm über einzelne Seiten eines Buches zu sprechen?
Der Inhalt
„One“ ist proppevoll von hochwertigen Motiven von Louisa. Louisa von vorne, Louisa von hinten, Louisa outdoor, Louisa im Bett, Louisa mit Hut, Louisa im Studio, Louisa lachend, Louisa ernst, Louisa mit available light, Louisa mit Blitzlicht, Lousia mit Reflektor… klingt langweilig? – Wenn man diese Zeilen liest, klingt das so. Das ist wohl richtig. Doch wer mit „One“ auf der Couch Platz nimmt und Zeit mitgebracht hat, der wird seine Skepsis schnell verlieren. Der Mix verschiedener Jahreszeiten, die immer wieder wechselnde Frisur von Louisa und auch die stetig wechselnde Kleidung machen „One“ zu einer der besten Monographien, die wir je näher betrachtet haben.
Das unterstreicht Hans-Jürgen Oertelt auch damit, dass er perspektivisch sehr abwechslungsreich an seine Muse herangeht und immer wieder (aber eben nicht immer!) auch Hintergrundelemente in den Bildaufbau einbezieht und zum Teil mit sehr spitzen Winkeln arbeitet. Auch der Schnitt zeigt eine spannende Vielfalt, da der Künstler mal das Close-up wählt und dann richtig Raum zeigt. Auf ganz enge Schnitte verzichtet er jedoch grösstenteils und orientiert sich so von der Bildsprache an klassischen Künstlern seines Fachs.
Grossflächige Motive
Hans-Jürgen zeigt überwiegend ganzseitig die Motive, die er mit Louisa geschaffen hat. Hier und da kommt ein Passepartout hinzu, aber mit ganz wenigen Ausnahmen sind die Seiten dieser Monographie zu 80% oder mehr mit Bildmaterial gefüllt. Raumverschwendung = Null. Bilder im Querformat gibt es nur wenige. Und wenn diese dann auf einer Seite gezeigt werden, fällt erstmals richtig auf, wie effizient der Künstler die Flächen doch genutzt hat.
Auf leere Seiten, wie sie manch andere Herausgeber von Fotobüchern sehr gerne nutzt, um den Lesefluss zu unterbrechen, verzichtet Hans-Jürgen in „One“ fast vollständig. Dafür gibt es drei Zitate, die in ebenfalls silberner Schrift (wie auf dem Buchtitel) nach rund einem Viertel des Buches zum Nachdenken und Innehalten anregen. Dass es zwei Zitate von Peter Lindbergh sind, verwundert nicht. Dass ein Zitat von Marilyn Monroe stammt, passt wunderbar – zu Louisa, die in manchem Motiv an die 1926 in Kalifornien geborene Filmschauspielerin erinnert.
Louisa’s Posen
Viele Menschen und insbesondere Models zeigen immer wieder die gleichen Posen. Das kennen Fotografen von Modelsharings und Workshops, die auch Hans-Jürgen regelmäßig anbietet und die oft dazu führen, dass die Teilnehmer über gleiches, ja beinahe identisches Bildmaterial verfügen. Und sicher hat Louisa, die zusammen mit Hans-Jürgen ganze Workshoptouren absolviert hat, gerade für diesen Einsatzzweck ein fest abgestecktes Repertoire an Posen, die sie nach jedem Klick des Auslösers aus der Tasche zieht. Doch in „One“ zeigt sie deutlich mehr, als landläufig von Models bekannt. Ihre Posen überraschen nicht, aber sie zeigen in Summe das Model Louisa in einer Art 360-Grad-Betrachtung. Ob am Strand, auf einer Treppe oder in der Küche: Louisa variiert ihre Posen so wunderbar, dass „One“ nicht nur für Fotografen interessant ist, sondern auch für Models eine echte Posinglektüre sein kann.
Im Wandel der Zeit
Einen riesigen Vorteil für diese Monographie sehen wir darin, dass „One“ nicht als Buchprojekt entstanden ist und sich (wie bei anderen Künstlern oft der Fall) aus einer begrenzten Anzahl an Shootings bedient. Die Zusammenarbeit zwischen Louisa und Hans-Jürgen begann lange bevor die Idee entstand, ein Fotobuch zu entwickeln. Unzählige Workshops, lange Workshoptouren und natürlich auch Einzelshootings haben die beiden gemeinsam absolviert, bevor überhaupt die Idee entstanden ist, daraus ein Buch zu machen. So lebt „One“ von unzähligen Kulissen. Vom Strand bis in die Berge, vom stylischen Loft bis in die karge Studioatmosphäre. Auch wenn das Hauptmotiv immer wieder identisch ist, so haben wir bisher keine Monographie zu Gesicht bekommen, die derart abwechslungsreich ist.
Louisa als Typ
Auch wenn Louisa selbst in „One“ nur im Schlusswort ganz am Ende des Buches zu Wort kommt, so liefert Louisa den Beweis, dass sich Menschen über die Zeitachse verändern. „One“ lebt davon, dass Louisa über die Jahre hinweg nicht nur ihre Frisuren wunderbar änderte, sondern auch mit ihrer Kleidung und den Kleidungsstilen spielt. Während manche Models dazu neigen, stets den gleichen stereotypen Typ zu transportieren, greift Louisa auch hier in die Trickkiste. Manchmal so tief, dass man nur an ihrem kleinen Tattoo am rechten Unterarm erkennen kann, dass es tatsächlich Louisa ist, die hier in wieder anderer Pose abgebildet ist.
Überraschung
„One“ ist eine Monographie, die immer wieder aufs Neue überrascht. Auch nach 150 Seiten voll mit Louisa lässt die Neugierde beim aufmerksamen Betrachter nicht nach, weil inzwischen jeder Leser weiss, dass es auch auf den verbleibenden Seiten keine Wiederholung geben wird, sondern neue Motive – also neue Inspiration. So bleibt „One“ überraschend anders und liefert den Beweis, dass Monographien nicht langweilig sein müssen. Ganz im Gegenteil. Jedoch: Ein Erstlingswerk wie dieses legt die Messlatte für den Künstler extrem hoch, wenn dieser tatsächlich über ein zweites Druckwerk nachdenken sollte. Egal, ob das dann „Two“ heisst oder irgendwie anders…
Der Unterschied
Viele Künstler zeigen ihre Protagonisten in Monographien bewusst unbekleidet. „Sex sells“ sagt man nicht umsonst. Und ein Künstler, der darauf verzichtet, verzichtet ganz gewiss auch auf einen Teil des möglichen Umsatzes. Doch Hans-Jürgen Oertelt ist genau diesen Weg gegangen. Klar, auch er zeigt Louisa durchaus in sexy Posen und spielt hier und da mit nackter Haut. Aber einen blanken Busen sucht man vergeblich. Stattdessen bringt der Künstler hier mit wechselnden Perspektiven, wechselnden Locations und vor allem mit unterschiedlichen Hüten eine Abwechslung in die Monographie, die beachtlich ist. Vamp und Girly, sexy Dessous und Abendrobe. „One“ brilliert mit Abwechslung und gehört in jedes gut sortierte Fotobuch-Regal.
Unser Fazit
Kaufen und staunen! „One“ ist die ideale Ergänzung zum Interview mit Hans-Jürgen Oertelt und liefert im Bild das, was er allen Lesern und Abonnenten in Ausgabe 06 beschrieben hat. Zusammen sind beide Druckwerke ein echtes „Dreamteam“.
Rüdiger Spieler
Mai 1, 2020 @ 11:06 am
Was für ein wunderschöner Bericht zu einem ganz tollen Buch.
Ich selber durfte auf der „One“ Release Party von Hans Jürgen und Louisa ein signiertes Exemplar entgegen nehmen.
Seit dem ist es stetige Inspirationsquelle und Modeltutorial bei mir im Craft Werk 4 Studio.
Wer es noch nicht hat, dem kann ich dieses Buch nur empfehlen!
LG
Rüdiger