Unweit vom Rheinkilometer 745 befindet sich nicht nur der Kunstpalast mit der herrlichen Lindbergh-Ausstellung, sondern auch das NRW-Forum. Und letzteres zeigt -ebenfalls dank Corona deutlich verlängert- eine weitere brilliante Fotoausstellung: Martin Schoeller.
Doch bevor wir inhaltlich einsteigen, ein kleines Detail vorab. Nachdem wir nachmittags schon Schlangen vor der Türe gesehen hatten, treten wir dieses Mal pünktlich zur Öffnung des NRW-Forums morgens um 10 Uhr an. Wir werden freundlich begrüsst und es wird sofort klar, dass wir einer der ersten Gäste sind. Damit hatten wir am Pfingst-Montag nicht gerechnet. Doch noch weniger hatten wir damit gerechnet, dass wir gleich am Eingang freundlich darauf hingewiesen werden, dass unser Eintritt heute frei sei. Wir fragen freundlich nach, wie wir zu dieser Ehre kommen (wir waren in zivil unterwegs, waren also nicht erkennbar) und bekommen gleich eine einfache und zugleich einleuchtende Antwort: Das Kassenpersonal sei noch nicht da… Also nehmen wir unser Besucherbändchen und können die riesige Martin-Schoeller-Ausstellung quasi alleine geniessen.
Close Up
Wir beginnen im linken Flügel des NRW-Forums und blicken gleich am Eingang auf Jack Nicholson und die Beschreibung zu dem Projekt, das Martin Schoeller international bekannt gemacht hat: Zu einer Zeit, als kein anderer Fotograf Close Ups machte, machte Martin genau das. Langweilig? Vielleicht. Doch Martin war lange Zeit bei und mit Annie Leibovitz unterwegs. Und während sie für die räumliche Peoplefotografie steht, hat Martin den Fokus enger gelegt. Internationale Stars aus Fernsehen, Sport, Politik und Musik… sie alle hat Martin irgendwie gleich fotografiert. Gleich, weil alle Bilder so ehrlich und direkt anmuten. Und auch, weil sie in unserer Hochglanzwelt so brutal transparent wirken. Denn man sieht wirklich jedes Muttermal, jede Hautpore. Ja, sogar kleine Fehler im Makeup erkennt man direkt. Klar, die Wirkung kommt auch daher, dass alle Close Ups so gross ausgedruckt und so einheitlich gerahmt sind. Fast wie die Kaiserlich Russische Armee hängen die Motive milimetergenau an der Wand. Unruhe? Mitnichten. Die Wirkung der Bilder entsteht durch ihre Gleichartigkeit.
Und schon hier fällt auf, dass Martin Schoeller nicht nur einen klaren Close-Up-Stil besitzt. Nein, er setzt sogar -und das über Jahre hinweg- immer das gleiche Lichtsetup ein. Erfahrene Fotografen werfen dazu einen Blick auf die Augen von Barack Obama, Clint Eastwood, Bono, Udo Lindenberg, Angela Merkel, Harry Belafonte, Joachim Löw, Zinédine Zidane, Adele oder Serena Williams. Internationale Stars haben sich vor Martins Kamera eingefunden und alle das gleiche Licht bekommen. – Wie beeindruckend das ist, zeigt nicht nur die Menge der Close Ups, sondern vor allem die spärliche Beschriftung unter den Bildern: Neben dem Namen der abgebildeten Personen steht dort nur die Jahreszahl, in der das jeweilige Bild entstanden ist. Und das sind mittlerweile einige Jahre, über die dieses Photoproject nun bereits läuft.
Female Bodybuilders
Weibliche Bodybilderinnen sind ein weiteres Projekt von Martin Schoeller. Im Gegensatz zu der Close-Up-Serie ist dieses Projekt jedoch abgeschlossen. So ist die Zahl der Bilder auch entsprechend kleiner. Doch Martin kompensiert dies, in dem er die muskulösen Damen in Übergrösse präsentiert. Spannend zu beobachten ist, wie die Bilder im Kopf wirken. Ästhetisch ansprechend sind die Motive überwiegend nicht – schliesslich entsprechen sie so gar nicht dem Idealbild der Frau, wie es in unseren Kulturkreisen vorherrscht. So stossen die im NRW-Forum gezeigten Bilder also erst einmal auf Neugierde. Der Betrachter geht auf Entdeckungsreise. Die regelrecht aufgestellten Nackenmuskeln fallen vermutlich den meisten Besuchern direkt ins Auge.
Doch nach einiger Zeit verändert sich die Wahrnehmung. Der Blick wandert vom muskeldurchzogenen Körper zum Gesicht. Und schnell stellt man fest, dass die Gesichter der sonst so unnatürlich wirkenden Menschen eigentlich auffallend normal sind. Denkt man sich die Körper weg, könnten die Köpfe beinahe auf jedem anderen Körper stecken und wir wären wieder zurück in der „normalen Welt“. Dann nämlich würde dieser Teil der Ausstellung Menschen wie du und ich zeigen. Ganz ohne Glamour, Ruhm und Fankult, wie er bei Close Up doch nicht wegzudiskutieren ist.
Spannend zu beobachten ist auch, dass auch extreme Bodybuildererinnen nur Menschen sind: Hier und da sind kleine Makel im selbst angebrachten Lidschatten zu sehen. Das Ergebnis davon, dass hier keine Visagistin Pate stand.
Hollywood
Mit seiner Serie „Hollywood“ zeigt Martin Schoeller im NRW-Forum, dass er nicht nur Stars und Sternchen fotografieren kann, sondern auch diejenigen Menschen, die nicht im öffentlichen Interesse stehen. Im Gegenteil. Mit Hollywood zeigt er Menschen, die mitten in West Hollywood, Kalifornien, unter Wohnungslosigkeit leiden und an einer Strassenecke die Gelegenheit nutzen, kostenlos Essen zu bekommen.
Martin zeigt mit dieser Serie, wie wichtig die Würde des Menschen ist – egal ob reich oder arm. Er beweist sein soziales Engagement und wer seinen Instagram-Account kennt, wird wissen, dass Martin regelmässig die Gelegenheit nutzt, „in Kontakt mit der Basis“ zu kommen. Nach grossen Aufträgen oder immer, wenn er es irgendwie einrichten kann, zieht es ihn hin zu der Essensausgabe, wo es Lebensschicksale und beeindruckende Stories kostenlos für etwas Aufmerksamkeit und Anerkennung gibt. Ein Projekt, von dem wir wissen, wie sehr das Leben fremder Menschen auch Martin menschlich berührt.
Portraits
Portraits? Ist das nicht das Gleiche, wie Close Ups? Nun, darüber lässt sich trefflich streiten. Im Allgemeinen sind Portraits wohl breiter zu verstehen und zeigen häufig mehr, als nur das Gesicht. Doch „Portraits“ sind bei Martin Schoeller nicht nur Menschenabbilder, die mehr Kleidung zeigen, sondern eigentlich ein viel zu eng gesteckter Begriff für das, was sich hinter dieser Serie wirklich versteckt.
In „Portraits“ zeigt Martin Schoeller im NRW-Forum, wie kreativ er ist. Darum sind es auch nicht irgendwelche Portraits, sondern es sind Bildmotive, die zum Nachdenken anregen. Nicht selten hat er die klassische Rollenverteilung für diese Serie einfach vertauscht. So sitzt zum Beispiel ein Mann mit Lockenwicklern im Haar breitbeinig in der Badewanne und geniesst ein opulentes Mahl, welches vor der Badewanne liegt. Klischee? – Vielleicht. Wäre da nicht der Hund, der in der Badewannenecke auf dem Rand sitzt und die Szene aus dem gegenüberliegenden Blickwinkel betrachtet.
Den schnellsten Mann der Welt, Usain Bolt, inmitten eines Skulpturenparks aus Stein in natura auf einen Sockel zu stellen, kann man machen. Ihn für das Foto von oben zu beleuchten und rundherum „Besucher der Ausstellung“ ins Bild zu bringen, denen man vom Gesicht ablesen kann, dass sie sich fragen, was ein Mensch mit Haut und Haar inmitten eines Skulpturenparks zu suchen hat, zeigt, wie kreativ Martin Schoeller ist und welchen Aufwand er betreibt, um ein gutes Foto zu realisieren.
Auch der Fisch, der inmitten eines festlich gedeckten Tisches neben dem Silbertablett liegt und auf den menschlichen Schädel blickt, der auf dem Silbertablett präsentiert wird, bringt den Betrachter zum Nachdenken. Selbstreflektion ist es, was auch ein Foto von Angelina Jolie auslöst, welches sie perfekt geschminkt mit leicht geöffnetem Mund zeigt… doch aus den perfekt geschminkten Lippen läuft Blut das Kinn hinunter. Ein leiser Kampf gegen Massentierhaltung und den Fleischkonsum? Könnte sein, doch dazu sagt die Ausstellung nichts.
Ein weiteres Portrait hält uns -und den zumeist männlichen Fotografen ganz besonders- einen Spiegel vor: Da stehen zwei unbekleidete Models inmitten einer Galerie und malen mit Ölfarbe einen Mann, der im feinen Zwirn vollständig bekleidet vor ihnen steht, aber das Sektglas in der Hand hält, das Fotografen ihren Models gerne reichen, wenn der männliche Fotograf ein Aktfoto machen will. Verkehrte Welt.
Seitenwechsel
Drüben, im rechten Flügel des NRW-Forums treffen wir gleich am Eingang auf Martin Schoeller selbst. Das von ihm bekannte Motiv mit Rastalocken und Affen auf dem Haupt zeigt den Kopf hinter dieser beeindruckenden Ausstellung. Wider den tierischen Ernst präsentiert sich der Künstler hier selbst, um gleich dahinter mit anderen Projekten zu brillieren.
Drag Queens
Während im anderen Flügel sämtliche Bilder einheitlich gerahmt waren, fällt bei Drag Queens eins gleich ins Auge: Die schillernden Persönlichkeiten der Drag-Queen-Serie sind nicht nur die größten Ausdrucke der gesamten Ausstellung, sondern zugleich einfach auf Fotopapier ausgedruckt und mit Nägeln in der Wand fixiert. Vor allem Männer, die mit höchster Akribie versuchen, weibliche Züge anzunehmen, sind vor die Linse Schoellers getreten. Sie sind Performance-Künstler und die von ihnen verwendeten Farben und Muster schreien den Betrachter nur so an. Ganz so, als wollten sie fragen: „Schaue ich etwa nicht ganz normal aus?“.
Die schiere Größe der Motive läd dazu ein, genauer hinzuschauen. Wie aufwändig die „Kostümierung“ dieser Menschen für dieses Shooting sein muss, kann man als Betrachter nur erahnen. Ob eine durchschnittliche Braut an ihrem Hochzeitstag jedoch mehr Zeit aufgewendet hat, um sich bestmöglich zu präsentieren, darf hier vermutlich in Frage gestellt werden.
Identical
Eineiige Zwillinge sind der Stoff, aus dem „Identical“ gemacht ist. Wer den Introtext für diesen Teil der Ausstellung nicht liest, wird vermutlich erst beim zweiten oder dritten Zwillingspäarchen entdecken, dass es sich doch nicht um die gleichen Menschen handelt. Denn erst beim dritten Zwillingspaar fällt plötzlich ein Muttermal ins Auge des aufmerksamen Betrachter. Und hat es dazu gebracht, zurückzugehen und den Introtext nun doch aufmerksam zu lesen. Spannend, wie ähnlich sich Menschen sein können. Selbst bei nicht gleichgeschlechtlichen Zwillingen ist die Ähnlichkeit mehr als verblüffend – selbst, wenn die Kleidung und auch die Nachnamen kraft Eheschliessung andere sind.
Death Row Exonerees
Wie es sein kann, dass ein Land wie Amerika im 21. Jahrhundert noch die Todesstrafe als letztes probates Mittel einsetzt, ist Martin Schoeller (und nicht nur ihm) ein Rätsel. Doch hier -in „Death Row Exonerees“- geht es nicht nur um die Todesstrafe, sondern darum, dass unzählige Menschen über Jahre hinweg und zu Tode verurteilt in einer Zelle saßen, aber gar nicht schuldig waren. Unter den vergleichsweise kleinen Bildern dieser Serie steht -im Vergleich zu allen anderen Ausstellungsteilen- pro Bild ein aussagekräftiger Text, der Hintergrundinformationen über die abgebildeten Menschen liefert. Und eins ist in jedem Text gleich: Der Nebensatz „…Jahre in der Todeszelle, für ein Verbrechen, dass er/sie nicht begangen hat“. Nicht nur im Bild setzt Schöller also auf das Stilmittel der Wiederholung.
Die ja noch vergleichsweise junge Entdeckung der DNA und die Tatsache, dass sich manchmal Jahre nach einer Straftat dann doch jemand anderes für schuldig bekennt, führt zu fehlerhaft durchgeführten Schuldsprüchen und Inhaftierungen. Martin Schoeller gibt diesen Menschen über diese Ausstellung und seine Fotos ein Gesicht. Und er lässt seine Death Row Exonerees sprechen: Denn hinter dieser kleinen Serie an Fotos befindet sich ein kleiner „Darkroom“, in dem das NRW-Forum Kurzfilme von Martin über die Todeskandidaten zeigt: Mit dem Licht, mit dem Martin seine Portraits der „Totgeweihten“ geschossen hat, hat er auch Stummfilme gedreht. Kurze Filmsequenzen, in denen die Todeszellenbewohner einfach stumm auf ihrem Stuhl sitzen sollten und nichts tun oder sagen durften. Diese Stummfilme hat Martin dann mit Tonspuren unterlegt, in denen die Kandidaten über ihre Leben und ihre Träume berichten. Eindrucksvoller und zugleich einfühlsamer kann man wohl kaum mit diesem brisanten Thema umgehen.
Kayapo
In dieser recht klein gehaltenen Teilausstellung zeigt Martin Schoeller indigene Kayapo-Frauen aus dem brasilianischen Amazonasgebiet, die sich extra für ein Fest mit nur zwei Farben die Gesichter bemalt haben. Anders als in der westlich geprägten Welt, nutzen diese Frauen die Farbe in ihren Gesichtern dazu, ihre Erfahrungen, ihre Lebensereignisse aber auch ihre Entbehrungen sichtbar zu machen und betonen (statt sie unter Schminke zu verstecken).
Ob diese Fotoserie fotografisch wichtig ist, wird man vermutlich erst in einigen Jahren erfahren. Zweifelsfrei beweist Martin Schoeller mit dieser Serie jedoch, dass er darauf dressiert ist, in Serien zu denken, diese konsequent umzusetzen und das Sujet der Peoplefotografie nicht nur dazu einzusetzen, um Schönheit zu präsentieren, sondern auch auf Minderheiten, ihre Bedürfnisse und ihre Spezialitäten aufmerksam zu machen. Denn irgendwie werden die Teilausstellungen erst im Ganzen dem gerecht, was Martin Schoeller ausmacht.
Fazit
Was dem Besucher des NRW-Forums grosszügig als eine Ausstellung präsentiert wird, ist in Wirklichkeit eine Ausstellungssammlung von acht Einzelprojekten. Mit Ausnahme der Amazonas-Frauen und der weiblichen Bodybuilderinnen handelt es sich stets um Dauerprojekte aus dem Hause Schoeller. Jedes einzelne Projekt wäre geeignet, mit einem eigenen Buch vervollständigt zu werden. Und in der Tat: Einige Bücher über die Einzelprojekte gibt es gleich neben dem Eingang auch zu kaufen.
Die unterschiedlichen Facetten der Peoplefotografie, die Martin Schoeller im NRW-Forum zeigt, sorgen dafür, dass die Ausstellung eigentlich für jedermann -vom Kind bis zum Pensionär- eine Reise wert ist. Doch richtig viel wert ist die Ausstellung vermutlich für Fotografinnen und Fotografen, die sich selbst mit der Peoplefotografie beschäftigen. Warum? Vier klare Botschaften ziehen sich durch alle Teilausstellungen:
- Denke und handle in Serien, wenn du anstrebst, irgendwann einmal eine Ausstellung zu machen.
- Sei anders und suche dir Projekte, die nicht tausend andere Fotografen auch schon gemacht haben.
- Entscheide dich für ein Licht-Setup und nutze es konsequent vom ersten bis zum letzten Tag.
- Keine Serie und kein Projekt muss an einem Tag abgeschlossen werden. Denn erst über die Zeit entsteht Magie.
Verlängert
Anders, als auf vielen Plakaten und Fahnen noch zu sehen, endete die Martin Schoeller-Ausstellung nicht bereits am 17.05.2020, sondern auch sie wurde aufgrund der Corona-bedingten Unterbrechung bis zum 13.09.2020 verlängert. Eine gute Gelegenheit also, die Lindbergh-Ausstellung im Kunstpalast schräg gegenüber mit der Schoeller-Ausstellung im NRW-Forum zu kombinieren. Wir empfehlen jedoch, zwischen beiden Ausstellungen eine Pause einzulegen und entweder das Café im Kunstpalast oder das Café im NRW-Forum für einen Break zu nutzen: Erst die erste Ausstellung rekapitulieren und dann in die zweite Ausstellung einsteigen. Das lohnt sich wirklich.
Während Lindbergh Geschichten über mehrere, teilweise sehr unterschiedliche Motive in schwarzweiss erzählt, setzt Schoeller auf Farbe und Einheitlichkeit im Bildaufbau (Ausnahme: Portraits). Genug Material für den Kopf, um den Geist mit einer Doppelportion Kunst vom täglichen Corona-Wahnsinn abzulenken.
Herzliche Empfehlung – auch dann, wenn die Kasse des NRW-Forums besetzt sein sollte…. denn es gibt zahlreiche Rabattierungen (unser Tipp: vorher auf der Website des NRW-Forums prüfen, damit die entsprechenden Belege/Kundenkarten auch am Mann/Frau sind). Und anschliessend den obligatorischen Spaziergang am Rhein nicht vergessen. Vielleicht fällt das Schild zum Rheinkilometer 745 auch euch dann direkt nach dem Ausstellungsbesuch ins Auge…
Faces of XLH • Martin Schoeller • NRW Forum • bis 20.02.2022
Februar 18, 2022 @ 7:08 pm
[…] meisten ist Martin Schoeller, geboren in München und wohnhaft in New York, sicher durch seine Closeups bekannt: Egal ob George […]