Erstmals seit vielen Jahren liegt ganz Deutschland unter einer Schneedecke. Glaubt man den Medien, so handelt es sich um einen „Jahrhundertwinter“ und um „ein einzigartiges Wetterphänomen“. Wer schon ein paar Semester mehr „auf dem Buckel“ hat, der wird vermutlich schmunzeln. Es gibt Menschen, die können sich noch daran erinnern, dass in der Tagesschau (ohne anschliessende Sondersendung) über die Eisbrecher auf der Nordsee berichtet wurde, die die Zufahrt in Flüsse, Kanäle und Häfen freimachten. Schnee war selbst in Nordrhein Westfalen vor 40 Jahren noch üblich und nicht selten mussten regelrechte Panzer aus Eis und Schnee von den Gehwegen geschlagen werden.
Aber heute sind wir Tempomaten, Standheizungen im Auto, fernsteuerbare Drohnen und Kameras gewöhnt, die Tiere bei Nacht erkennen und automatisch scharfstellen können. Klar, in der Pandemie ist auch die Presse dankbar, mal über ein anderes Thema berichten zu können. Aber lassen wir das. Im heutigen Blogartikel geht es nicht um das Wetter, sondern um ein Thema, das damit zusammenhängt, aber oft vergessen wird: Minderheiten, die von der besonderen Wetterlage in den kommenden Tagen wirklich betroffen sind – Menschen, die auf der Strasse leben.
Mit wem könnten wir uns darüber besser unterhalten, als mit Sebastian Trägner, unserem Künstler aus Ausgabe 08? Sebastian hat in Ausgabe 08 nicht nur ganz besondere Menschen gezeigt, sondern auch über sie und ihr Leben berichtet. Zuletzt trafen wir ihn in Köln und er berichtete mit Stolz (und völlig zu Recht), dass dieses für viele Menschen eigenwillige Thema, ihm in den letzten Wochen zu sehr viel Aufmerksamkeit verschafft hat. Es gab Reportagen und Live-Aufnahmen mit ihm im Fernsehen (z.B. in Sat 1) und wir wissen aus erster Hand, dass dies nicht die letzten „Sondersendungen“ aus dem Hause Trägner waren.
SWAN Magazine: Sebastian, Du lebst quasi Tür an Tür mit einigen Obdachlosen aus der Dom-Stadt. Bereits vorletzte Woche hatte die besondere Wetterlage dazu geführt, dass in Köln Hochwasser entstand. Für die Altstädter Kölns ist das nichts Neues. Wie betrifft Hochwasser die Obdachlosen der Stadt?
Sebastian Trägner: Ja, mittlerweile ist der Rheinpegel ganz schön angestiegen. Gestern war ich kurz unterwegs und habe mir mal selbst ein Bild von der Situation in der Altstadt gemacht. Schon allein das Hochwasser betrifft die Obdachlosen natürlich, da rund um den Dom und den Hauptbahnhof herum doch so einige Schlafplätze sind. Lüftungsschächte aus denen aus Parkhäusern und Abluftanlagen warme Luft austritt, fehlen natürlich schon jetzt. Dort befindet sich ja auch die Obhutstation Gulliver. Dort wird gerade im Rahmen der Winterhilfe gerade Enormes geleistet. Viele windgeschützte Schlafplätze im Freien stehen aber aktuell unter Wasser. Das führt natürlich dazu, dass diese Menschen sich neue Plätze suchen müssen.
Was man sich dabei bewusst machen muss, ist folgendes: In der kalten Jahreszeit ist es für Obdachlose grundsätzlich ein Überlebenskampf, Plätze zu finden, die ausreichend Schutz und Wärme bieten. Das Hochwasser dramatisiert die Lage nun zusätzlich. Gerade unter Brücken sind ja ganzjährig beliebte Schlafplätze, weil sie vergleichsweise viel Schutz bieten. Doch diese Plätze sind jetzt alle nicht nutzbar. Wenn Obdachlose vor Geschäften über Nacht ihr Lager aufschlagen, werden diese ja oft verjagt. Auch in U-Bahn-Stationen werden Obdachlose ja nicht geduldet. Es gibt sogar welche, wo die gante Nacht Musik läuft, damit die Schlafsuchenden gar nicht schlafen können und sich nach Alternativen umsehen.
SWAN Magazine: Die Kölner werden aktuell in den Medien als positives Beispiel hervorgehoben, weil sie offenbar stärker als in anderen Regionen lokale Dienstleister, Restaurants, Bars und Veranstalter unterstützen, die besonders von der Pandemie betroffen sind. Kannst Du diese besondere Wärme auch gegenüber den Obdachlosen feststellen?
Sebastian Trägner: Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker hatte schon zu Beginn der kalten Jahreszeit im Rahmen einer Pressemitteilung informiert, dass sie sich von Oktober bis März intensiver für die Rechte von Obdachlosen einsetzen möchte. Diverse soziale Leistungsträger versuchen parallel immer wieder Ausgleichsaktionen zu starten, um diesen Menschen zu helfen – und diese Angebote werden auch angenommen. Die Einhaltung der Covid-Beschränkungen ist allen ein Anliegen, macht die Situation aber nicht leichter.
Zu Gastro und Veranstaltern kann ich selbst leider nichts sagen. Aber es gibt tolle Aktivitäten, die wir zusammen mit der Arche, mit zahlreichen Prominenten und freiwilligen Spendern umgesetzt haben und die direkt die Bedürftigen erreicht haben. Auch auf der Strasse selbst erlebe ich hier in Köln, dass die Menschen gerade jetzt etwas aktiver auf die Obdachlosen zugehen und sie unterstützen.
SWAN Magazine: Weisst Du, wie viele Obdachlose in Köln leben und wie viele staatliche Notschlafplätze es für diese Menschen gibt?
Sebastian Trägner: Ich glaube, es ist wichtig, den Blick nicht nur auf Obdachlose zu richten, sondern sich mit der Zahl der Wohnungslosen zu beschäftigen. Es gibt ja durchaus Menschen, die sich aufgrund von Covid und Jobverlusten ihre Wohnung nicht mehr leisten konnten und nun nach einem neuen bezahlbaren Zuhause suchen. Davon haben wir laut meinem Kenntnisstand derzeit rund 6.000 Menschen alleine in Köln. Die Obdachlosen sind eine Teilmenge davon.
Wie viele Schlafplätze es in Köln für Betroffene gibt, kann ich nicht sagen. Ich weiss, dass der Sozialdienst katholischer Männer zuletzt 145 zusätzliche Schlafplätze geschaffen hat und dringend Spendengelder benötigt. Ähnliches hat auch der Sozialdienst katholischer Frauen auf die Beine gestellt.
Eine grosse Herausforderung sind natürlich auch Schlafplätze für Menschen mit Tier. Die Tiere dürfen in der Regel nicht in die Notunterkünfte. Deswegen hat der Tierschutzverein nun beheizte Zwinger zur Verfügung gestellt, damit die Betroffenen ihre Hunde abends abgeben können und sie morgens wieder in Empfang nehmen können.
Auch der Kältebus ist eine tolle Einrichtung, weil sich dort die Menschen einmal richtig aufwärmen können. Die Heilsarmee und Emmaus haben Heizzelte zur Verfügung gestellt. Auch am Kölner Hauptbahnhof gibt es zu gewissen Zeiten die Möglichkeit, sich aufzuwärmen und die sanitären Einrichtungen zu nutzen. Da passiert also schon eine ganze Menge, aber viele Menschen bekommen davon wenig mit. Und wo viel getan wird, da kommen natürlich auch viele Betroffene hin, weil sie diese Unterstützung dringend brauchen.
Bereits seit 24 Jahren bietet die Stadt Köln ja auch die „Winterhilfe“ an, bei der Strassenwächter eine unheimlich wertvolle Arbeit leisten. Auch die Streetworker gehen heute nicht nur täglich bestimmte Routen ab, sondern werden sogar so koordiniert, dass sie ganz gezielt zu den Menschen geschickt werden, wo Passanten (die übrigens in allen Städten existierenden) Nottelefone angewählt haben, weil ein Mensch regungs- oder leblos am Boden liegt. Diese Streetworker sprechen die Betroffenen nicht nur an und versuchen eine gewisse Ersthilfe zu geben, sondern klären die Menschen auch über die Hilfsangebote auf, die viele natürlich gar nicht kennen.
SWAN Magazine: Ein klein wenig Schnee (meist nur für wenige Stunden) gibt es ja jedes Jahr in Köln. Wie gehen die Obdachlosen damit normalerweise um?
Sebastian Trägner: Schnee ist in Köln City ja nicht so das riesige Thema. Bei uns ist es ja eh eher die andauernde Feuchtigkeit bei niedrigen Temperaturen, die den Obdachlosen zu schaffen macht. Viele dieser Menschen sind ja von grundauf Optimisten. Wenn es mal ein paar Grad minus hat, dann sagen viele „och, das wird schon wieder“. Dieser „Optimismus“ hat natürlich auch eine Ursache, derer sich nicht jeder bewusst ist: Wenn ein Obdachloser in eine Notunterkunft geht, dann kann er nicht sein ganzes Hab und Gut mitnehmen. Das bleibt dann also auf der Strasse – und wird dann (gar nicht so selten) von anderen Obdachlosen geklaut. Eine Frostnacht durchzuhalten, steht also nicht nur als Symbol für Stärke, sondern ist der Kampf ums blanke Überleben in der Nacht danach – die zwar weniger kalt sein kann, aber dann ohne Schlafsack doch noch schlimmer wird.
So wichtig wie die Notunterkünfte sind, so schwierig sind sie aber auch. Viele Betroffene schlafen dort nicht richtig, weil sie Angst haben, bestohlen zu werden. Auch sind es viele langjährige Obdachlose gar nicht mehr gewohnt, mit anderen Menschen in einem Zimmer zu schlafen. Wenn der Zimmernachbar die ganze Nacht schnarcht, wie ein Bär, bleibt von der Nacht nur die Wärme übrig. Hinzu kommt ja auch die Erfordernis, täglich einen neuen Covid-Schnelltest machen zu müssen. Auch das will nicht jeder, für den die Strasse teilweise auch Freiheit bedeutet.
SWAN Magazine: Wie soll man sich Obdachlosen gegenüber Deiner Meinung nach verhalten?
Sebastian Trägner: Ich glaube, das Wichtigste von allem ist, sie anzusprechen und sich mit ihnen zu unterhalten. Schon wenn die Einkaufsstrassen voll sind mit Menschen, leben die Obdachlosen, die auf der gleichen Strasse sitzen, total isoliert und sprechen ausser mit ein paar „Kollegen“ den ganzen Tag mit niemandem. Jetzt, wo die Städte seit Monaten leer sind, ist das noch schlimmer. Wichtig ist auch, sie zu fragen, was sie brauchen und was sie annehmen wollen. Trotz aller Not haben diese Menschen nämlich auch gewisse Vorstellungen und Vorlieben. Einem Obdachlosen ungefragt eine heisse Tasse Tee zu spendieren ist -einzeln betrachtet- eine tolle Geste. Doch was ist, wenn der Obdachlose an dem Tag schon zehn Tassen Tee bekommen hat, aber der Hunger plagt?
SWAN Magazine: Nach dem „Schneewalze“ kommt nun der Dauerfrost. Auch tagsüber soll es über Tage hinweg nicht eisfrei bleiben. Wie schätzt Du diese Situation für Menschen ein, die Du teilweise als Freude bezeichnest?
Sebastian Trägner: Schlimm! Im Winter 2013 gab es meines Wissens den letzten Kältetoten in Köln. Ich bin ja bekanntlich Raucher – und ich rauche nie in der Wohnung. Das heisst: Ich gehe raus auf die Strasse und rauche dort. Wenn ich dann nach drei oder vier Minuten fertig bin, bin ich in dieser Jahreszeit wirklich froh, dass ich wieder reingehen kann. Warum? Na, weil’s mir wirklich arschkalt ist!
Wenn man aber dauerhaft draussen unterwegs ist, geht es ja nicht nur um die Kälte, sondern auch um die soziale Isolation, die seit einem Jahr eine echte Konstante geworden ist. Und da hängt mehr dran, als nur die geschlossenen Geschäfte. So ein Lockdown sorgt auch dafür, dass diese Menschen ihre Obdachlosenzeitschriften gar nicht mehr verkaufen können. Es geht ja niemand durch die Einkaufsstrassen. Auch das sammeln von Pfandflaschen als Einkunftsquelle ist ja fast vollständig weggefallen. Es ist also nicht nur die körperliche Kälte, sondern auch die finanzielle Ebbe im Portemonnaie und die soziale Isolation.
SWAN Magazine: Und jetzt fällt ausgerechnet in dieser kalten Woche auch noch der Karneval aus…
Sebastian Trägner: Nun, ich kenne Obdachlose, die jedes Jahr vor dem Karneval flüchten. Aber das meinst du sicher nicht. Gerade im Karneval funktioniert das Flaschen sammeln ja recht gut. Und während einige Menschen mit steigendem Alkoholkonsum ja auch ihre Hemmungen verlieren, einmal mit einem Obdachlosen zu sprechen, so gibt es auch die Kehrseite, wo sich Menschen unter Alkoholeinfluss besonders grausam gegenüber Obdachlosen verhalten.
Was ich in dem Kontext auch interessant fand, war die Erkenntnis eines sehr aktiven Flaschensammlers. Der erklärte mir, dass in der Pandemie in der allgemeinen Bevölkerung der Alkoholkonsum zugenommen hätte. Ich war da ganz erstaunt im ersten Augenblick. Aber er konnte das begründen: Während er sonst sehr viele leichte PET-Plastikflaschen mit vergleichsweise hohem Pfand findet, hat die Anzahl der schwereren, aber finanziell für ihn unattraktiven Bierflaschen ganz ganz deutlich zugenommen. Für den Obdachlosen ist das auch logistisch eine Herausforderung: Für den Wert einer leichten PET-Flasche muss er nun vier schwere Glasflaschen finden und zum Getränkemarkt bringen.
SWAN Magazine: Der Deutsche Wetterdienst warnt teilweise davor rauszugehen. Das bezieht sich natürlich auf Menschen, die ein Dach über dem Kopf haben und deren Heizung funktioniert. Was rätst Du den Obdachlosen?
Sebastian Trägner: Ich kann nur raten, die Angebote von sozialen Einrichtungsstellen auch tatsächlich zu nutzen. Gerade Menschen, die schon seit zehn oder zwölf Jahren auf der Strasse leben, haben über die Zeit Notfallstrategien entwickelt. Die kennen teilweise leerstehende Gebäude etwas ausserhalb, die nicht jeder kennt und die vermeintlich besseren Schutz bieten – aber dort werden sie halt auch nicht gefunden.
Viele Obdachlose sind ja von unserer modernen Informationsarchitektur regelrecht ausgeschlossen. Deswegen empfehle ich Obdachlosen immer wieder, sich doch mit den Streetworkern auszutauschen, denn die kennen die jeweils aktuellen Angebote und haben auch Möglichkeiten, irgendwo kurzfristig zu helfen. Manchmal geht es ja auch nur um eine zusätzliche Essensausgabestelle, die vielleicht sogar um die Ecke gerade geöffnet hat.
SWAN Magazine: Vielen Menschen fällt der Zugang zu Obdachlosen ja grundsätzlich schwer. Das Vorurteil, jeder Cent, den man ihnen schenkt, wird in Alkohol und Drogen investiert, sitzt sehr tief. Hast Du einen Tipp, wie Menschen wie Du und ich Obdachlosen in der vermutlich kältesten Woche des Jahres helfen können?
Sebastian Trägner: Ich kann verstehen, dass viele Menschen sich scheuen. Wer helfen möchte, der braucht auch gar nicht durch die Stadt zu laufen und jeden Obdachlosen anzusprechen, den er irgendwo sieht. Aber wenn jemand tagsüber am Boden liegt, der sich nicht bewegt, dann schadet es nicht, diese Person anzusprechen. Gerade wenn eine solche Person in dieser Jahreszeit gar nicht mehr auf das Ansprechen reagiert, dass handelt es sich meist schon um einen lebensbedrohlichen Zustand.
Ich finde auch das Fragen sehr wichtig. Auch bei den Obdachlosen gibt es Menschen, die lieber einen Kaffee als einen Tee haben wollen. Das erfährt man nur, wenn man fragt. Und meist bekommt man sehr grosse Dankbarkeit zurück, die man sofort in den Augen des Obdachlosen sieht.
Ich habe in meinem Freundeskreis auch Menschen, die einen so vollen Kleiderschrank besitzen, dass sie sich in diesen Tagen statt einem Pullover einfach zwei anziehen und den zweiten dann einem Obdachlosen schenken, dem es kalt ist. Eine nette Geste ist auch eine Decke oder ein Schlafsack.
Was ich nicht kann, ist den Menschen die Angst vor den Obdachlosen zu nehmen. Was ich aber kann, ist die Menschen zu ermutigen, den Versuch des Ansprechens einfach mal zu wagen und über den eigenen Schatten zu springen.
SWAN Magazine: Machen wir es mal konkret. Würde ein Obdachloser, den ich nicht kenne und der mich nicht kennt, denn von mir denn einen alten Schlafsack überhaupt annehmen?
Sebastian Trägner: Ja klar. Davon gehe ich sogar ganz stark aus. Auch das ist den Versuch auf jeden Fall wert. Vor allem, wenn diesen Schlafsack schon seit Jahren niemand mehr nutzt.
SWAN Magazine: Hast Du auch einen Rat, was die Menschen auf gar keinen Fall tun sollten?
Sebastian Trägner: Es ist seit einigen Monaten irgendwie „en vogue“ zwischendurch mal „etwas für’s Karma“ zu tun. Wenn ich den Begriff „Karma“ schon höre, platzt mir innerlich die Hutschnur, weil das offenbar die Legitimierung dazu ist, sonst sehr egoistisch zu sein. Einem wildfremdem Menschen einfach ungefragt einen Kaffee vor die Nase zu stellen, ist so eine typische „Karma-Aktion“, mit der sich die Menschen dann auch noch gerne als Gutmensch gegenüber anderen Menschen darstellen. Das widerstrebt mir. Das ist ein wenig so, wie der junge Bursche, der eine junge Dame auf sich aufmerksam machen möchte und wortlos an ihrem Tisch vorbeigeht und ein Bier hinstellt. Das nennt man „plumpe Anmache“. Das ist nicht „Karma“, sondern peinlich. Und wer sowas macht, der darf sich auch nicht wundern, wenn der Kaffee nicht dankbar angenommen wird.
Was viele falsch einschätzen, ist ja auch, dass man immer etwas verschenken muss. Das ist gar nicht so. Manchmal ist es das grösste Geschenk, fünf Minuten mit jemandem reden zu können. Das gilt aber immer. Nicht nur in der kältesten Woche des Jahres.
Wichtig ist auch zu verstehen, dass auch ein Obdachloser mal einen schlechten Tag haben kann und vielleicht nicht so freundlich reagiert, wie man es erwartet. Ich erlebe das auch. Selbst bei Obdachlosen, die ich schon lange kenne. Ich kann aber akzeptieren, wenn diese Menschen zu mir sagen „Du, heute nicht.“ Dann ist das eben so. Dann spreche ich sie morgen dennoch wieder an. Und meist ist dann alles anders. Ich glaube dieses Recht, nicht reden zu wollen, müssen gerade Neulinge in der Obdachlosenkommunikation erst einmal lernen. Aber das gehört dazu.
SWAN Magazine: Was wirst Du in den nächsten Tagen unternehmen, um Menschen, die Du seit Jahren kennst und begleitest, zu unterstützen?
Sebastian Trägner: Ich war gestern bei Gabriel. Gabriel ist der Obdachlose, mit dem ich zuletzt im WDR und im ARD zu sehen war. Gabriel wollte unbedingt mit mir zusammen noch einmal die Aufzeichnung anschauen. Er wurde nach der Ausstrahlung im Fernsehen so oft angesprochen. Das hat ihm richtig gut getan. Und ich habe ihn -wie ich das immer tue- gefragt, ob er irgendwas benötigt. Aber Gabriel ist ganz genügsam. Er sagte -ebenfalls wie immer-, dass ich ihm gerne ein bis zwei Millönchen vorbeibringen könne, wenn ich die gerade irgendwo nutzlos herumliegen hätte… aber sonst wollte er nichts und war ganz zufrieden mit dem, was er hat. Oft glaube ich ihm das aber auch nicht, wenn ich sehe, dass seine Kleidung richtig feucht ist. Dann gehe ich durch meine Sockenkiste durch, schaue, ob ich noch eine lange Unterhose habe und bringe sie ihm.
So etwas für mehrere Leute zu organisieren, kann ich leider nicht leisten. Aber das ist auch nicht erforderlich, wenn ein paar Menschen mehr mitdenken und handeln. Viele, die mich nach den Fernsehauftritten anschreiben, verweise ich daher an die sozialen Dienstleister in ihrer Stadt. Die haben viel mehr Personal und können die Verteilung auch professioneller umsetzen, als ich das alleine könnte. Hinzu kommt ja, dass dies gar nicht mein Job ist.
SWAN Magazine: Gerade die Landbevölkerung kommt mit den Obdachlosen in den Städten gar nicht in Kontakt. Gerade jetzt, wo allein Pandemie-bedingt jeder zuhause bleiben soll und alle Geschäfte zu haben. Wie könnten „Landeier“ den Obdachlosen in den Städten helfen?
Sebastian Trägner: „Landeier“? Den Begriff mag ich… lustig. Aber klar, auch die können sich an die Sozialstellen wenden, Decken und Schlafsäcke, Jacken und Hosen, aber auch Essen und Getränke spenden. Ich weiss aus Köln, dass es immer wieder auch an überdachten Schlafgelegenheiten fehlt. Vielleicht gibt es irgendwo einen leerstehenden Hof, den man nun nutzen könnte, um die kalten Wochen zu überbrücken. Die Kältebusse werden ja teilweise auch als Shuttlebusse zu Schlafstätten in den Randbezirken eingesetzt. Jeder, der helfen will, muss nur mit den richtigen Menschen reden…
SWAN Magazine: Danke Dir, Sebastian. Es war -wie immer- spannend, mit Dir zu sprechen und vielleicht in diesem Fall mal auf eine ganz andere Art inspirierend. Haben wir noch etwas vergessen, was Du unbedingt anfügen möchtest?
Sebastian Trägner: Ich glaube, wir sollten das Notfalltelefon nochmal hervorzuheben. Diese Nummer wird gerade in dieser Zeit immer wieder im Internet und auf den sozialen Medien geteilt und es ist sicher gut, wenn man die Notfallnummer der eigenen Stadt im eigenen Handy gespeichert hat. Dann kann man nämlich bei Bedarf sofort agieren und muss nicht lange überlegen oder suchen. Die deutschlandweit zentrale Notfallnummer ist übrigens die +49 40 428285000.
Sebastian, Dein Engagement ist Motivation und Inspiration zugleich. Vielleicht können wir mit diesem Beitrag und einem Teilen dieses etwas unüblichen Presseartikels in vielen Städten in diesen kalten Tagen etwas bewegen. Das wäre doch etwas ganz Tolles für die Karnevalswoche, die sich viele Menschen normalerweise einiges an Geld kosten lassen.
Wir vom SWAN Magazine freuen uns jedenfalls schon auf das nächste Treffen mit Dir. Und dann holen wir auch noch das ausführlichere Interview für unseren Blog nach. Freue Dich schoneinmal auf spannende Fragen… Dein SWAN Team