Andreas Jorns ist ein Ausnahmekünstler. In mehrfacher Hinsicht. Der erfolgreiche Bänker und Unternehmensberater hat nebenher eins der besten Bücher über die Blitzfotografie geschrieben. Das war im Jahre 2010. Er war Strobist und Bestsellerautor von DataBecker und dem dpunkt Verlag. Doch das ist alles Geschichte. Irgendwann hat Andreas einen harten Cut gemacht und sein klassisches Business über Bord geworfen, um sich ganz der Fotografie zu widmen. Auch das ist jetzt schon acht Jahre her. Aber das Besondere: Als Andreas diesen Schritt in die Selbständigkeit in einem völlig anderen Beruf wagte, war er längst keine 20 oder 30 mehr. In einem Alter, in dem viele andere Menschen einen Neuanfang (und damit das Über-Bord-Werfen sämtlicher Erfahrungen und Erfolge) für völlig verrückt bzw. viel zu risikobehaftet bezeichnen, hat Andreas diesen Schritt gewagt. Sicher mit ein paar Euro in der Hinterhand, aber vom erfolgreichen Manager zum Einzelkämpfer als Fotograf ist einkommens- und umsatzmäßig ein großer Schritt. Nach unten.
Umso verwunderlicher war es, dass sich Andreas gleich beim Start in das Fotografenbusiness nicht breit aufgestellt hat (wie die meisten, die diesen Schritt wagen), sondern eng wie kaum ein anderer. „Black and white only” war schnell zu seinem Slogan geworden. Und man hätte ihn ergänzen können mit der Subhead “people photography and nothing else”.
Diversity
1.983 Gramm schwer, 244 Seiten dick, 24 cm breit, 32 cm hoch und mit weißen Hardcover verarbeitet. Das sind die “hard facts” von Diversity. Diversity (englisch) steht für Vielfalt, Unterschiedlichkeit und kulturelle Unterschiede.
Nach “friday’s child“, “come undone“, “[un]masked” und “[un]invited“, die allesamt Monographien waren, zeigt Andreas Jorns wieder verschiedene Bildstrecken in einem Druckstück. Acht Kapitel verteilen sich auf 244 Seiten und beginnen mit einem zweigeteilten Vorspann: Teil eins zeigt ein Portrait der “Besten Ehefrau von allen” (wie Andreas seine Frau Annette seit Jahren liebevoll umschreibt) und Teil zwei ist ein klassisches Editorial. Andreas verzichtet darin darauf, seinen Eltern und den Kameraherstellern zu danken, sondern beschreibt den steinigen Weg zu Diversity in wenigen Worten. Doch er unterzeichnet das Editiorial nicht selbst, sondern setzt das Logo seines neuesten Bildbandes unter den Text: Diversity. Überhaupt stellt er sich selbst als Künstler in den Hintergrund. Sein Name prägt zwar den Buchrücken, doch dieser ist nicht halb so gross, wie der Name seines Buches. Da gibt es Fotografen, die ihre Bildbände exakt andersherum bedrucken. Tiefstapelei? Vielleicht…
Jedes Kapitel beginnt mit etwas Text. Kurz und knackig sind die Texte. Doch trotz aller Kürze besitzt Diversity mehr Text als alle anderen Monographien von Andreas zusammen. Tut das gut? Oder stört das? Die “Diversity” der einzelnen Kapital hat zur Folge, dass die Texte helfen. Sie helfen zu verstehen, um was es geht und sie sind eine willkommene Bremse, um den Kopf frei zu bekommen für das nächste Thema. In klassischen Büchern ist das oft umgekehrt: Ein Bild trennt die Kapitel – hier ist es eine Headline oder ein Text, der die Bildstrecken trennt. Praktisch auch für diejenigen, die Diversity immer wieder aufschlagen und ein bestimmtes Kapital suchen. Doch es gibt eine Besonderheit: Während das Editorial und die Überschriften der einzelnen Kapital aus Andreas’ Feder stammen, sind es die Protagonisten, die zu den Kapiteln beschreibende Worte finden. Doch beginnen wir von vorne.
Three songs
“Three songs” ist der Auszug aus einem weiterhin laufenden Projekt von Andreas. Die Konstellation ist einfach: Ein Model, keine Kleidung, drei Songs. Andreas bedient die Kamera und das Model bewegt sich. Instruktionen, wie sie sonst vom Fotografen an das Model gehen, gibt es bei diesem Projekt nicht. Nur die Musik spricht. Und die löst Emotionen aus und gibt Andreas den Raum, den er als Künstler schätzt. Er spielt mit den Bildausschnitten und der Unschärfe. Er wechselt die Perspektiven. Aber stets setzt er auf spärliches Licht. Schwarz dominiert und nimmt den Leser gleich zu Beginn mit auf eine Reise. – Und die Playlist liefert er gleich mit.
The wonderful age
Jeder Fotograf denkt bei diesem Titel automatisch an die Jugend. An die Unbekümmertheit, die Mann/Frau zwischen 16 und 25 so oft hat. Warum? Die meisten Models, die Fotografen vor die Linse nehmen, sind aus dieser Altersklasse; jung, schön, faltenfrei. Doch dies ist ein Anachronismus. Hier geht es um das Gegenteil. Andreas hat ein Pflegeheim besucht und die Weisheit des Lebens fotografiert. Ein einheitliches Setup, immer Portrait und stets die gleiche Bildgröße: Quadratisch. Männlein und Weiblein zeigt Andreas in diesem Kapitel. Die Falten in den Gesichtern erzählen Geschichten. Doch die Augen funkeln neugierig. Augen altern zwar, aber sie verlieren ihre Strahlkraft nicht. So sprudelt Lebensfreude bei denjenigen Menschen über, die im hohen Alter ohne fremde Hilfe aufgeschmissen sind. Klasse: Ganz zum Schluss (auf dem letzten Bild des Kapitels) verrät Andreas dann, warum seine Bilder trotz recht unterschiedlicher Modelle, recht ähnlich anmuten. Und die Dame, die ihm den Zugang zum Pflegeheim gewährte, bekommt die Möglichkeit der Schlussworte. Ein tolles Projekt, das hoffentlich Nachahmer findet.
Plonsky
Wer Andreas Jorns persönlich kennt oder ihm auf Social Media Kanälen folgt, der weiss, dass dieser Mann eine besondere Beziehung zu Usedom pflegt. Unzählige Fotos hat er hier am Strand gemacht. Und jährlich lockt er seine Follower nach Usedom zum legendären “AJ Meetup“. Vielleicht ist das AJ Meetup der richtige Start in das Kapitel “Plonsky”. Im Baltic Hotel zu Zinnowitz (Usedom) residiert der Künstler, der seit Jahren die ersten Buchstaben von Vor- und Nachnamen als Markenlogo nutzt: AJ alias Andreas Jorns. Um alle Teilnehmer seines Meetups “unter ein Dach” zu bringen, ist das Baltic Hotel so etwas wie eine zweite Heimat für den Fotografen aus dem Umland von Düsseldorf. Wäre die Frage, mit der Andreas dieses Kapitel beginnt, in einem Bewerbungsgespräch gestellt worden, so wäre die Antwort wohl mit mangelhaft bewertet worden. Denn er wirft die Frage auf, beantwortet sie aber nicht direkt. Der Ein-Wort-Satz “Einblicke.” beschreibt besser, was den Leser dieses Kapitels erwartet: Andreas hat Michael Plonsky (dem neuen Koch des Baltic Hotels) nicht traditionell “über die Schulter geschaut”, sondern “auf die Finger geschaut”. Zwischen Kochtöpfen hindurch, beim Verzieren von Tellern, aber auch bei der Raucherpause vor der Türe. Andreas gelingt in diesem Kapitel, was andere Fotografen nur selten transportieren: Für andere Menschen zu kochen und immer wieder neue Ideen zu entwickeln ist Kunst. Kunst ist Leidenschaft. Und Leidenschaft merkt man auch in der Freude an der Arbeit, die trotz Konzentration stets mitschwebt in diesem Kapitel. “Künstler hinter den Kulissen” wäre sicherlich auch eine Headline für dieses Kapitel gewesen.
Off the beaten track
Hier ist Andreas warmgelaufen und in “heimischen Gefilden” angekommen. Da sind sie, die düsteren Bilder vom Strand. Da sind die stark wechselnden Schnitte. Und da sind sie auch, die vielen Leerseiten, die zum Nachdenken und Innehalten anregen. Ohne Einleitung und ohne erklärende Worte ist Andreas mit seinem Model Stefanie am Strand unterwegs. Herbststimmung, dunkle Wolken, hohe Kontraste. Schwarz ist so eine herrlich bunte Farbe… Er nutzt klassische Motive, lässt Stefanie an dem Pfahl anlehnen, der den Steg über ihr trägt. Umgestürzte Bäume und die in Strandnähe wachsenden Gräser tauchen in seinen Bildern auf. Das ist Andreas, wie man ihn kennt. Klasse: Während Come Undone noch viel Platz verschwendet und teilweise die Mittelfalz durch das Hauptmotiv geht, sind die Motive hier (wie in allen anderen Kapiteln auch) optimal gewählt. Und das ist gut so.
Curiosity
Curiosity ist düster. Zwischen selektiver Schärfe und bewusster Unschärfe wandern die Motive hin und her. Mal sind es Körperdetails, mal Accessoires. Hier sind es Trauben, dort ist es eine Ananas. Rosalie ist seine Protagonistin in Curiosity. Meistens nackt, aber eben doch kein klassischer Akt. Künstlerisch ist die Serie, die wohl genausogut “Früchtchen” heissen könnte. Denn sowohl die Tattoos von Rosalie, als auch das Obst, als auch Rosalie selbst sind von zarter und natürlicher Schönheit umgeben. Wer nur die Bilder betrachtet, wird vermutlich gleich zu Beginn fragen, was Herbert Grönemeyer schon durch Stadien schrie: “Was soll das?” Doch eine Seite vor dem letzten Portrait im typisch Jorns’schen “Tiefschnitt” kommt Rosalie selbst zu Wort und gibt Antworten. Ein Spannungsbogen.
Naked
Anders als der Titel des sechsten Kapitels vermuten lässt, beginnt diese Fotostrecke angezogen. Amy Lee am Wattenmeer ist der Opener. Gefolgt von zwei Portraits, wie man sie aus der Dunkelkammer dieses Künstlers erwartet. Es folgt eine Doppelseite in weiss. Wer zu faul ist, den Text von Amy Lee (die im echten Leben Sarah heisst) zu lesen und hastig weiterblättert, der wird vermutlich kurz stocken: Denn das erste Bild nach der weißen Doppelseite zeigt wieder diese Amy Lee – allerdings mit blank rasiertem Kopf. Was nach Provokation aussieht und vom Titel her auf eine Aktstrecke hindeutet, ist in Wahrheit eine Gegenüberstellung: Ein und der selbe Mensch – mal mit modernem Kurzhaarschnitt, mal komplett ohne Kopfhaare. Denn “sich nackt fühlen” hat nichts damit zu tun, Brüste zu zeigen. Nacktheit ist vor allem ein Gefühl. Und manchmal steckt eben eine Krankheit dahinter, die man nicht vermuten würde, wenn man die Bilder von Sarah sieht, die man von Andreas sonst so kennt.
La petite mort
Spannungstechnisch wohl der Höhepunkt von Diversity ist die Bildstrecke mit Yase. Sie beginnt mit leicht voyeuristisch angehauchten Fotos aus versteckter Perspektive und zeigen Yase nackt. Nach ein paar abwechslungsreichen Motiven kommt sie wieder: Die Doppelseite in weiss. Bilderlos. Dafür mit einem Text von Yase. Den leicht panischen Gesichtsausdruck von Andreas kennt neben Yase vermutlich nur “die beste Ehefrau von allen”. Aber Yase hat ihn gesehen. Mehr noch: Sie hat ihn -vermutlich ohne es zu ahnen- selbst provoziert. Andreas Jorns, der eigentlich nicht so schnell aus der Fassung zu bringen ist, muss wohl einen Moment geschluckt haben, als Yase aussprach, was sie nun geschrieben hat. Doch mehr wollen wir an dieser Stelle nicht verraten. Denn etwas Spannung muss ja schließlich sein. – Eine besondere Bildstrecke, die man von Andreas nicht erwartet…
Still crazy after all these years
Mit Michael Günther findet Diversity noch einen überraschenden Abschluss. Wer sich bis hierhin gefragt hat, was es mit dem Titelbild des Buches auf sich hat, der wird in Kapitel acht fündig. Während die Überschrift dieses achten Kapitels durchaus auch der Schlusssatz des siebten Kapitels (oder gar des ganzen Buches) sein könnte, eröffnet sich hinter diesem Zweizeiler ein überraschendes letztes Kapitel. Klar, auch Andreas Jorns war schon in Venedig, doch dort hat er Bernadette Kaspar für [un]masked auf den Sensor gebannt. Um den venezianischen Karneval abzulichten, war Andreas Jorns vermutlich noch nie in Venedig. Geschminkt, gealtert und nicht mehr in Topform, wie zu Zeiten auf dem Hochtrapez steht Michael nun Model. Mit Hosenträgern und halbnackt gibt der Protagonist den gealterten Clown. Irgendwo zwischen Circusmanege und dem Joker sind Schminke, Kostümierung und Kulisse angesiedelt. Dabei ist die Bildstrecke fokussiert betrachtet, nichts anderes als eine Auftragsarbeit eines Menschen, der sich endlich einmal vor der Kamera öffnen wollte. – Und es getan hat.
The End
Diversity endet mit einer Doppelseite. Dieses Mal in schwarz. Darauf steht (nicht mehr und nicht weniger als): “In Gedenken an Peter Lindbergh und Christoph Ruhrmann.”
Fazit 1: Was ist dies für ein Buch?
Ein klassisches Fotobuch? – Um diese Frage zu beantworten wäre es vermutlich sinnvoll, erst einmal sicherzustellen, dass alle Interessierten ein einheitliches Verständnis vom Begriff Fotobuch haben. Doch lassen wir das. Diversity ist nämlich anders. Es reiht sich weder nahtlos in die Bildbände von Andreas selbst ein, noch passt es 1:1 zu anderen Bildbänden berühmter Fotografen. Diversity ist ein dicker Schinken und allein von Gewicht und Verarbeitung eine Erscheinung. Die doch sehr unterschiedlichen Kapitel machen das Buch zu einem Pottpourri an Kurzgeschichten. Und zu eben diesen sind die kurzen Texte mehr als hilfreich. Auch wenn lange Texte in klassischen Fotobüchern verpönt sind, passen Sie hier wie die Faust auf’s Auge.
Fazit 2: Für wen ist das Buch die richtige Wahl?
Eins vorweg: Auch wenn das Buch Aktstrecken beinhaltet, ist es kein Buch für Fans von nackter Haut. Diversity ist eher ein Buch für Menschen, die kurz vor dem Burnout stehen, sich als Fotograf betrachten, aber keine Lust mehr auf die Kamera haben. Warum? Nun, Diversity besticht nicht unbedingt mit klassischen Fineart-Motiven und typischen Bildschnitten, sondern Diversity brilliert in Sachen Einfallsreichtum und Überraschung. Menschen, die sich an immer wiederkehrenden stereotypen Fotobüchern satt gesehen haben, finden in diesem Buch Inspiration. Ebenso ist Diversity ein idealer Begleiter für Fotografen, die es satt sind, die immergleichen 16-25jährigen abzulichten und einfach mehr Tiefe suchen. Denn eins schafft Diversity perfekt: Den Betrachter mit auf eine Reise zu nehmen. Genauer gesagt: Auf acht sehr unterschiedliche Reisen.
Fazit 3: Lohnt sich der Kauf?
Mit einem Listenpreis von 50 EUR ist Diversity gemessen an Umfang, Verarbeitungsqualität und Inhalt keineswegs zu teuer. Im Gegenteil. Kaum ein anderes Fotobuch bietet mehr Abwechslung auf 244 Seiten. Mehr noch: Vergleicht man AJ’s insgesamt 10. Druckstück mit anderen Fotobüchern, so ist Diversity auf lange Sicht eine richtig gute Investition. Warum? Auch wenn sich dies erst über die Zeitachse bewahrheiten kann, ist Diversity vermutlich eins der Bücher, die man immer wieder aus dem Schrank holen und anschauen wird. Spätestens dann, wenn man neue Ideen sucht und selbst in einer kreativen Schaffenspause gefangen ist.
Fazit 4: Ist Diversity mit anderen AJ-Fotobüchern vergleichbar?
Nein. Diversity ist keine Monographie und alleine deswegen schon außergewöhnlich. Die größte Parallele besteht wohl am ehesten zu dem Jorns’schen Magazin “aj“, zu dem es drei reguläre und zwei Special Editions gibt. Im Gegensatz zu den aj-Magazinen ist der künstlerische Anspruch allerdings höher angesiedelt. Andreas ist eben doch ein Künstler und nicht nur ein Fotograf, der dem Mainstream folgt. Andreas provoziert, wie es sich für echte Kunst gehört.
Unser Tipp: Kaufen! Gerade im aktuellen Corona-Krisenmodus passt dieses Buch, wie kaum ein anderes. Es fragt immer wieder: Muss alles so bleiben, wie es immer war?
Zitat: Andreas Jorns
Schärfe gibt’s beim Inder!