Die Leica M Serie ist wahrhaftig eine Ikone der deutschen Technologie- und Designkultur. Wer sich wirklich mit der Leica M, ihrer Geschichte, der Konstruktion und der Produktion dieser weltweit bekannten Kameraserie beschäftigen möchte, der kommt am Buch des Leica-Insiders Günter Osterloh wahrhaft nicht vorbei. Das im Heel-Verlag erschienene Standardwerk ist nicht nur für Freunde des Wetzlarer Unternehmens gedacht, sondern bietet eigentlich jedem, der sich für Kameratechnik interessiert, auf 325 Seiten einen spannenden Einblick in einen Klassiker.
Da Leica Kameras nicht nur in Deutschland auf breites Interesse stoßen, ist das Buch konsequent zweisprachig aufgebaut. Deutsch und Englisch stehen nebeneinander, wie Geschwister. Hochwertig in Farbe bebildert, handelt es sich bei dem 2.056 Gramm schweren Buch im Format 292 x 246 x 30 mm um einen Kunstdruck, der sich wunderbar in der Vitrine neben klassischen Fotobüchern macht, auch wenn dieser Bildband einen klaren Fokus auf Technik besitzt und nur wenige Bilder zeigt, auf denen nicht wenigstens eine Kamera, ein Objektiv oder eine technische Zeichnung eines Kameradetails enthalten ist.
Nichts für reine Fotogenießer
Fotogenießer, die wundervolle Fotos international bekannter Leica-Fotografen erwarten, werden also enttäuscht. Denn hier geht es nicht um das Bildergebnis, welches mit der Leica M entstehen kann, sondern um die Serie selbst.
So beginnt das Buch mit einem Vorwort von Dr. Andreas Kaufmann, früherer Investor und heutiger Aufsichtsratsvorsitzender von Leica Camera AG. Er stellt in knappen Sätzen die Besonderheit des M-Systems vor und verzichtet darauf, auch nur mit einer einzigen Silbe zu erwähnen, dass es auch einmal schlecht aussah, um dieses heutige Prestigeprodukt.
Direkt dahinter kommt Günter Osterloh, Verfasser und Autor des 2004 erschienenen Buchs “50 Jahre Leica M”, welches in diesem Buch seine würdige Forsetzung findet. Günter Osterloh war selbst Mitarbeiter von Leica, hat Höhen und Tiefen des Unternehmens selbst miterlebt und hatte ursprünglich die Idee, zum 40. Geburtstag der Leica M eine Dokumentation über das Unternehmen Leica und die M-Serie zu veröffentlichen. Dazu befragte er seine Kollegen, machte Tonbandaufnahmen und besuchte auch Pensionäre des Unternehmens, die längst im Ruhestand waren, um gerade die Anfänge des M-Systems sauber darstellen zu können. Doch verschiedene Gründe führten dazu, dass es zur geplanten Dokumentation nicht kam. Rund acht Jahre später erst wertete Günter Osterloh die Tonbandcassetten aus und schuf auf deren Basis die Ursprungsversion dieses Buches, das 2004 erschien.
Der Leica-M-Stammbaum
Nachdem zuvor einige Sondermodelle der M-Serie gezeigt wurden, befindet sich auf der Doppelseite 36/37 der Leica-M-Stammbaum. Er zeigt die Geschichte der Kameraserie – aber vor allem macht er das nahezu unveränderte Design der Serie seit 1954 transparent.
Das M in der Typenbezeichnung dieser Kameraserie steht bekanntlich für “Messsucher”. Wie dieser entstand, welche Besonderheiten es damit auf sich hat, erklärt das Buch ausführlich. Auch technische Zeichnungen dieses Bauteils, das zeitweise aus mehr als 150 Einzelteilen bestand, werden ausführlich erklärt. Auch das Thema Suchervergrößerung (und wie es dazu kam) wird ebenfalls im Buch ausführlich erläutert.
Nicht nur Tradition, sondern auch Aktuelles
Doch es geht nicht nur um Historie. Auch die Einführung der Zeitautomatik mit der M7 im Jahre 2002 und der elektronisch gesteuerte Verschluss im gleichen Modell werden erläutert. Dazu werden Detailaufnahmen des Messsuchers neben Designurkunden und Patentanmeldungen abgebildet.
Welchen Aufwand im Detail Leica betreibt, um ein perfektes Produkt zu entwickeln, wird z.B. transparent, wenn verschiedene Haken für die Verbindung zwischen Kamera und Kameragurt gezeigt und beschrieben werden. Selbst Königshäuser werden da als Inspirationsquelle genutzt.
Immer wieder wird dem Leser so transparent gemacht, dass Produkte, die Generationen überdauern, einer besonderen Perfektion bedürfen und durchaus auch “Macken” haben können. Im Buch selbst wird die Küchenmaschine KitchenAid (die um ein vielfaches weniger komplex aufgebaut ist, als eine Messsucherkamera, welche ja Mechanik, Optik, Elektronik und Design kombiniert) zum Vergleich herangezogen. Auch Klassiker wie der LandRover Defender könnten hier als Beispiel dienen. Sie alle sind nicht in jeder Hinsicht perfekt, aber eben in einigen Punkten unschlagbar. Und diese Unschlagbarkeit in Verbindung mit einer Behutsamen Facelift-Kultur machen Produkte, wie die Leica M, eben zu etwas Einzigartigem unter jede Menge Konkurrenzprodukten, die oft preisgünstigere Nachahmerprodukte anbieten, aber eben nicht eins: Das Original!
Objektive: Ein “Zubehörprodukt” mit Schlüsselfunktion
Bei wohl keinem anderen Vollsortimentler im Kamerabereich haben die Objektive eine solche Schlüsselfunktion, wie bei Leica. Klar, ganz ohne Objektiv ist der beste Kamerabody relativ reizlos. Doch gerade die Tatsache, dass selbst Objektive von 1954 bis heute an einer Leica M zum Einsatz kommen können, macht dieses System zu etwas ganz Besonderem. Spätestens jetzt, wo Canon und Nikon mit ihren neuen (größeren) Bajonetten eine ebenfalls über Jahrzehnte bestehende Konsistenz zugunsten neuer technologischer Möglichkeiten über Bord geworfen haben (auch wenn die alten Bajonette selbstredend weiter gepflegt werden).
Welchen Ruf Leica-Objektive haben und dass sie nicht nur für Leica-Kamerabesitzer von Bedeutung sind, wird in diesem Buch leider nicht transparent. Denn unzählig sind heute diejenigen Nutzer, die ein altes Leica-Objektiv ihr Eigen nennen und es an Kameras anderer Hersteller adaptieren. Das passiert mit wohl keinem anderen Objektivhersteller so oft, wie mit Leica-Objektiven.
Festbrennweiten
Auch wenn dies im Buch nicht wirklich hervorgehoben wird, so ist die konsequente Bevorzugung der Festbrennweite sicherlich ein weiterer Aspekt, der den Kultstatus der Leica Objektive international prägte. Lichtstarke Brennweiten, allen voran die Lichtriesen der Noctilux-Reihe, gibt es bei Leica schon lange – und bei manch anderem Kamerahersteller bis heute nicht.
Ein besonderes Kapitel nimmt daher auch die Veredelung der verwendeten Gläser ein. Geschliffen, poliert, gepresst und mit ionenunterstütztem Aufdampfen von Antireflexschichten. Kein Weg war und ist Leica zu weit und zu aufwändig, wenn damit die Leistungsfähigkeit gesteigert werden kann.
Das Unternehmen Leica
Ab Seite 164 beschäftigt sich das Standardwerk mit dem Unternehmen und seiner Geschichte. Besonders hervorzuheben ist hier die Tradition des Familienunternehmens. Die Nähe zu den Mitarbeitern, die regionale Verankerung und Förderung wird in Wort und Bild glaubhaft transportiert. Leica wurde stets mit unternehmerischen Zielen geführt, doch der Profit stand nicht dauerhaft an erster Stelle. So wurde aufwändig geforscht und konstruiert, um neue technologische Schritte realisieren zu können. So ist das Buch ein wenig auch eine Lektion über deutsche Tugenden, die den Mittelstand Deutschlands geprägt und weltweit bekannt gemacht haben.
Leica wird digital
Natürlich kommt auch das digitale Zeitalter nicht zu kurz. Ab Seite 290 steht beschrieben, wie der Film mithilfe von Sensoren Einzug in das M-System hielt. 1996 mit der Leica S1 noch relativ weit vorne in der Digitaltechnik, kam schon 1998 mit der Digilux-Serie die digitale Kompaktkamera aus dem Hause Leica auf den Markt. Doch bis zur ersten digitalen M dauerte es dann ungefähr so lange, bis ein neuer James Bond ins Kino kommt: 2004 wurde zuerst ein digitales Rückteil für die analogen Kleinbildkameras R8 und R9 vorgestellt, bevor dann 2006 mit der Leica M8 eine wirkliche Neuinterpretation der M-Serie startete. Und der Trick: Um den Kult um die M-Serie zu wahren, wurde so wenig wie möglich verändert, obwohl es sich technisch um eine vollständige Neuauflage des Systems handelte. Und dies führt dazu, dass digitale M-Modelle bis heute auf den ersten Blick kaum von ihren analogen Urahnen unterschieden werden können.
Auch die 2012 vorgestellte und seit 2015 überarbeitet angebotene Leica M Monochrom (die ja irgendwie wie für das SWAN Magazine gemacht zu sein scheint) kommt natürlich zur Sprache. Ein mutiger Schritt, in einer seit Jahrzehnten auf Farbe fokussierten Kameraindustrie auf einmal eine digitale Kamera herauszubringen, die ausgerechnet eins nicht kann: Farbe.
Doch vielleicht ist es das bewusste Weglassen des Autofokus’, was Leica das Recht gibt, auch in anderen Bereichen unkonventionell zu entscheiden. Vielleicht muss man genau das tun, was im Vergleich zu Wettbewerbern dann ein eindeutiges Unterscheidungskriterium liefert, um einen Kultstatus zu erreichen…
Leica polarisiert
Am Ende steht eins fest: Die Produkte aus Wetzlar polarisieren. Während die einen es für “überteuertes Spielzeug mit eingeschränkter Funktionalität” halten, schwören die Fans auf den “einmaligen Leica-Look” (der sich im Produktdesign und in den Bildergebnissen widerspiegeln soll).
Das wird besonders transparent, wenn man sich bewusst macht, dass Leica in der M Serie bis heute auf einen Autofokus verzichtet und auch keine echte Automatik anbietet. Wer eine Leica kauft, muss sich eben mit den Essentials der Fotografie auskennen. Und muss damit klarkommen, dass eine Leica neben einer Zeitautomatik nur noch den M-Modus anbietet. M wie manuell. Oder M wie Messsucher…
Dabei spielt auch der Preis eine entscheidende Rolle: Wer für ein Kamerasystem mehr Geld ausgibt, als der Durchschnittsbürger für einen Gebrauchtwagen, der möchte eben auch kein Produkt haben, welches es an jeder Ecke zu kaufen gibt. So ist und bleibt Leica eine Kultmarke – und eine Investition in bleibende Werte ebenso. Wie bei einem alten Porsche kann der Kauf einer Leica durchaus als Wertanlage angesehen werden. Denn zumindest die Sonderserien sind teilweise so polarisierend und rar, dass es sicher zu sein scheint, dass bei einem späteren Verkauf durch die Enkel des heutigen Käufers sicherlich ein höherer Preis erzielt werden kann, als die UVP des Herstellers.
Last but not least
Das Fachbuch zur Leica M Serie ist mit einem üblichen Hochglanzumschlag in blau eingebunden. Schön gemacht. Jedoch die wahre Pracht entdeckt nur, wer den Umschlag abnimmt: In dezentem anthrazit gehalten, bietet der echte Buchrücken nicht nur eine dezent grau-silbrige Schrift, sondern selbige ist -genauso wie das klassische Leica-Logo- edel in das Hardcover eingeprägt. Buchmacherkunst der Extraklasse!
Für wen ist das Buch das Richtige?
Nun, zweifelsfrei sollte jeder Leica-Besitzer dieses Buch im Regal stehen haben. Doch nicht nur die! Jeder, der sich für Kameratechnik interessiert, erhält im Buch von Günter Osterloh Einblicke in die Historie deutscher Kameratechnik und auch die unternehmerischen Herausforderungen, derer es bedarf, wenn man ein Kameramodell über Jahre hinweg zum Kultobjekt etablieren möchte.
Ist das Buch nicht längst veraltet?
Nun, die zweite Auflage stammt aus dem Jahr 2015 und ist damit sicherlich nicht mehr “druckfrisch”. Klar hat Leica zwischenzeitlich (z.B. mit der Leica M 10 P) neue Produkte auf dem Markt, die im Buch kraft seines Erscheinungsdatums nicht enthalten sein können. Doch das Buch soll schließlich keinen Produktprospekt ersetzen. Und für Menschen, die sich für eine Kameraserie interessieren, deren Urahn aus dem Jahre 1954 stammt, für den sind die “fehlenden vier Jahre am Ende” sicherlich keine Herausforderung. Eine aktualisierte dritte Neuauflage lohnt sich jedenfalls noch nicht. Damit würde Günter Osterloh Wetzlarer Traditionen brechen: Denn aus dem Hause Leica kommt auch nicht jedes Jahr eine neue M auf den Markt…
Zitat: Leica-Werbeanzeige von 2001
Wer sehen kann, kann auch fotografieren. Sehen lernen kann allerdings lange dauern.
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Juli 6, 2022 @ 6:32 pm
[…] Kunstwerke, die vermutlich ebenso zeitlos und wertstabil sind, wie Kameras und Objektive der Traditionsmarke Leica. Und wer das für sich persönlich realisiert, könnte geneigt sein, statt in Technik und […]