Kennst Du dieses kühle aber zugleich edle Gefühl, wenn Du Deinen Bettbezug aus Seide berührst? Es ist ein Hauch von Luxus, den man gar nicht sehen muss, um die Wertigkeit zu erkennen. Richtig?
Vor uns liegt ein Bildband. Edel in Seidenstoff gehüllt. Ein warmes Orange ist die dominante Farbe. Titel und Autor in Schwarz. Dezent. Ebenfalls edel. Wer das Buch besitzt oder in die Hände nimmt, wird unweigerlich über den Umschlag streicheln. Eine Erfahrung der Sinne, die beginnt, bevor der Bildband überhaupt aufgeschlagen ist.
144 Seiten stark, edles Papier in einer Stärke von 150 Gramm pro Quadratmeter kommt der Bildband mit den Abmessungen von 21 x 28 cm (Breite x Höhe) auf ein Gewicht von 909 Gramm. Grösse und Gewicht, aber auch die Wertigkeit des Umschlag machen den Bildband zu einem Handschmeichler. Er ist irgendwie – auch wenn es schwer ist, dies näher zu beschreiben – optimal ausbalanciert und angenehm zum Mitnehmen. In den Urlaub zum Beispiel.

Der erste Bildband von Thomas Berlin
Anders als andere Fotografen, die die grosse Bühne suchen, ist Thomas eher dezent im Hintergrund aktiv. Er ist da, er verfolgt alles aufmerksam, aber er bekleidet lieber die Beobachterrolle. Bis man ihn anspricht. Dann sprudelt es nur so aus ihm heraus.
Wir kannten ihn bereits aus Paris. Eine Pizza mit Stefan Rappo und Peter Ortmann in Paris hatten uns im November 2023 zusammengebracht. An jedem Tag, wo wir eine kleine Privataudienz mit Vincent Peters hatten. In einem Hotel. Nicht auf der ParisPhoto, die der Grund unserer Reise – und damit die Ursache für unser erstes Zusammentreffen – war.
Im November 2024 kreuzten sich unsere Wege erneut. Nicht in Paris, sondern auf Usedom. Wir hatten die Ehre, die nagelneue Canon EOS R1 zum Fotoevent „Usedom Meetup“ von Andreas Jorns mitnehmen zu dürfen und Thomas Berlin hatte etwas ganz anderes im Gepäck: Seinen ersten Bildband. Dieser liegt nun neben uns. Handsigniert, versteht sich.

Aufschlagen und Überblick verschaffen
Nach zwei komplett leeren Doppelseiten kommt eine Doppelseite mit dem Titel des Bildbandes und dem Namen des Fotografen. Dezent, aber dramaturgisch in Szene gesetzt. Es folgt eine weitere Doppelseite. Wieder ist das weisse Papier dominant. Nur ein kleiner Satz steht dort. Doch er wird das Credo des Bildbandes sein: „A journey into your imagination“. Auch auf der nächsten Seite wird der Spannungsbogen weiter aufgespannt: Thomas zeigt ein Bild, das verschwommen die Blätter von Seerosen auf einem Teich zeigen könnte, dessen Wasser vom Wind in Bewegung ist. Wer so langsam wie wir in das Erstlingswerk einsteigt, der könnte zum ersten Zwischenfazit kommen: „Mensch, der macht’s aber spannend!“
Doch bereits die nächste Doppelseite zeigt: Die Seerosen sind keine Seerosen und der Teich ist ein Pool. Thomas nutzt das Stilmittel, auf der ersten Inhaltsseite mit Bildelementen nur einen Ausschnitt von dem zu zeigen, was er auf der nächsten Doppelseite vollständig zeigt: Eine Dame im Bikini, die vom Beckenrand ihre Füsse ins Wasser steckt. Und sogleich ist die Jahreszeit definiert: Es ist Sommer… (aber mit dem Schlager von Inka Bause aus dem Jahr 1987 hat „On Every New Day“ nun wirklich nichts zu tun).
Den Bildband im tristen Winter mit der sogenannten „Dunkelflaute“ zu öffnen, macht wirklich Sinn. So strömt warme Sommerluft ins Gemüt. Doch da es kein Inhaltsverzeichnis und auch keinen Einleitungstext gibt, ist man als Betrachter erst einmal orientierungslos. Es ist ein wenig, wie in einem Traum, der plötzlich beginnt und dessen Ursprung unbekannt bleibt.

Eine Monographie von und mit Irina Lozovaya
Nur wenige Seiten später lichtet sich der Blick ein wenig. Obwohl die Motive immer wieder zwischen Farbe und Schwarzweiss wechseln, wird schnell klar, dass das Model immer dasselbe ist. Ausser auf Bildern, die nur Himmel oder eine Hand am Türöffner zeigen. Doch eben diese Motive sorgen dafür, dass das rationale Denken schon bald wieder abgeschaltet wird. Denn irgendwie will uns der Autor offenbar mit auf eine Reise nehmen. Wie war noch der einzige einleitende Satz des Buches? Genau: „A journey into your imagination“ … ist das Ergebnis einer dreijährigen Zusammenarbeit zwischen Model und Fotograf.
Irina ist ein extrem ausdrucksstarkes Model, bei dem bereits auf den ersten Seiten des Bildbandes sichtbar wird, dass sie sich in die Szenen einzelner Motive hineinversetzt und selbst eine Verbindung zum Set eingeht. Doch in „On Every New Day“ beweist sie eindrucksvoll, dass eine Monographie weder langweilig noch einsilbig sein muss. Im Gegenteil.

Vielfach unbekleidet und doch kein Aktbildband
Wer nur schnell durch den Bildband „hindurchfegt“, könnte vorschnell zum Ergebnis kommen, dass es sich hier um noch einen Aktbildband handele. Und tatsächlich, es geht hier nicht um „des Schneiders neue Kleider“. Dennoch würde man Thomas und Irina nicht gerecht, wenn man aus dem „Mangel“ an Kleidungsstücken, automatisch einen voyeuristischen Hintergrund unterstellen würde.
Denn „On Every New Day“ zeigt Irina nicht nur würdig, sondern auch erwachsen und stark. Muskelanspannungen und Posen zeigen deutlich, dass Irina keine Projektionsfläche für flache Phantasien ist. Im Gegenteil: Thomas Berlin gelingt es, das „schwache Geschlecht“ als „stark und dominant“ darzustellen. Wie in einem Traum bindet Thomas immer wieder Motive ein, die verschiedene Städte zeigen. Mal mit Wahrzeichen darauf, die eine klare Zuordnung zulassen, mal ohne. Bilder, die ein Flugzeug am Himmel oder eine Flugzeugturbine zeigen, unterstreichen den Reisecharakter des Buches zusätzlich. Und in der Tat: die Motive zu „On Every New Day“ sind an insgesamt zehn Orten entstanden. Also definitiv kein Buch, dass aus einem einzigen Shooting entstanden ist.

Ein Reisebuch, aber kein Reiseführer
Es gibt diese Bildbände, die Dir ein Stadt oder eine bestimmte Region näherbringen wollen. Doch das ist „On Every New Day“ definitiv nicht. Ort, Land und Sprache, Religion und Kultur, Politik und sexuelle Gesinnung stehen hier gar nicht im Vordergrund. Das wird spätestens dann klar, als ein im zweiten Drittel des Bildbandes ein zweites Model in den Motiven erscheint.
Wer die am Ende des Bildbandes dann doch vorhandenen Textteile weiterhin nicht gelesen hat, der wird in diesem abwechslungsreichen Traum spätestens in der Mitte des Bildbandes realisieren, dass dieses Buch kein Drehbuch für einen Traum ist, sondern vielmehr der Appell, rauszugehen, die Komfortzone zu verlassen und ein mit spannenden und zugleich abwechslungsreichen Motiven ein fotografisches Projekt umzusetzen.
Denn stellen wir uns Folgendes vor: Du sitzt mit einem Glas Wein in der Hand auf Deinem Lieblingssessel. Der Plattenspieler dreht seine Runden und die Musik erinnert Dich an längst vergangene Tage – doch die Kraft der Musik ist präsent… Zusammen mit „On Every New Day“ weckt sie Erinnerungen an eine unbeschwerte Jugend und neben der Musik ist die Fotografie das verbindende Element…
Dann, und zwar genau dann, könnte „On Every New Day“ Dich tief in Deinem Inneren kitzeln und die Lust auf ein fotografisches Abenteuer entfachen. Eine Reise mit Deiner Kamera. Eine Reise, die Du als Reportage festhältst. Ohne Gefühl für Zeit und Ort. Ohne Verpflichtungen und aus purer Lebensfreude.

Entführungen annehmen…
Der Begriff „Entführung“ ist zu Recht negativ assoziiert. Und in Verbindung mit unbekleideten Damen erst recht. Doch Thomas Berlin setzt keine Ankerpunkte zu Falco’s „Jeanny„. Im Gegenteil! Denn es braucht eine Weile, bis man als Betrachter realisiert, dass Irina der Regisseur ist. Zu Beginn mag der Blick öfters an Irina’s idealen Proportionen hängenbleiben, doch je länger man „On Every New Day“ in der Hand hält, so stärker fällt die Hauptrolle ihrer Hände auf. Irina ist eine Dame, die in ihrer Stärke nicht allen Vorstellungen entspricht – aber alleine deswegen diese Reise so spannend macht.
„On every new day“ entführt daher vor allem diejenigen Leser unter uns, die immer wieder mit wechselnden Modellen die eigentlich immer ähnlichen Orte aufsuchen und laufend neue Gesichter suchen. „On Every New Day“ ist – zumindest mit einem Glas Wein und einer guten Musik im Hintergrund – die Einladung, selbst ein fotografisches Projekt zu realisieren. Eine Reise anzutreten, deren Ende ungewiss ist. Eine Reise, die zur Improvisation auffordert, es erforderlich macht, Standards hinter uns zu lassen und Neues zu probieren. Mit einem Model, das nicht auf Anweisungen wartet, sondern eigene Ideen umsetzen möchte und uns aus der Komfortzone lockt. Nicht nur mit Reizen.

Fotokunst
Mit dem Bildband „On Every New Day“ nimmt uns Thomas Berlin auch künstlerisch mit auf eine Reise. Gekonnt setzt er Irina in Szene – in Licht, aber auch in Schatten. Er spielt mit Farbe und dem Verzicht auf Selbige. Wenn sich überhaupt etwas wiederholt in seinen Motiven, dann sind es Betten, die aber laufend aus anderen Zimmern stammen und vermutlich mehrere Kontinente miteinander verbinden. Viel abwechslungsreicher als jeder Portraitbildband zeigt Thomas eindrucksvoll, dass der Weg (die Reise mit Irina) das Ziel bestimmt und ein offener Geist Ideen freisetzen kann, die auf der heimischen Couch, am Computer oder in der Flut der alltäglichen Reizüberflutung von Instagram eben nicht entstehen können.
Free your mind
Neben Deinem Plattenspieler liegt eine Kamera, die Du viel zu lange nicht mehr „ausgeführt“ hast? Ein Stück Technik, dass jede Menge Assoziationen in Dir weckt, aber die Zeit lässt nicht zu, dass Du Dich auf die Reise begibst? Dann nimm Thomas Berlin’s „On Every New Day“ als Einladung, Dich selbst zu entführen und einfach auf Deine Kreativität zu verlassen. Du darfst den Bildband dann nur nicht nach dem ersten Lesen im Regal verstecken, sondern Du musst es zulassen, dass dieses leuchtende Orange des Covers Deine Aufmerksamkeit erhaschen kann und Dich dazu einlädt, mit der Hand darüber zu streicheln.
Thomas, selbst beruflich laufend international unterwegs, gelingt es, diese Zeit für sich selbst zu blockieren und Kunst zu schaffen. Sein erster Bildband liegt nun in der Deutschen Nationalbibliothek. Er beweist in „On Every New Day“, dass selbst innigste Verfechter der Schwarzweiss-Fotografie durchaus berechtigt sind, zwischendurch auch mal in den Farbtopf zu greifen. Er beweist mit seinem ersten Bildband, dass beides nebeneinander funktioniert und sogar das einzelne Bild aufwertet – solange es nicht gestalterisch identisch ist.

Stricktly limited
„On Every New Day“ verrät zwar am Ende unserer Ausgabe, dass es sich um die erste Auflage handelt – und macht damit Hoffnung auf eine zweite Auflage. Doch wir sprachen mit Thomas Berlin auf Usedom. Seit die Druckmaschinen ausgeschaltet sind, beschäftigt ihn schon sein Folgeprojekt. Und so blubbert bereits der Gedanke im Sektglas, dass es auch schön sein kann, wenn ein Erstlingswerk vollständig ausverkauft ist und so Platz für etwas ganz Neues entsteht… aber noch ist es nicht soweit. Noch gibt es ein paar Exemplare. Bestellbar über die Website von Thomas. Wie wir aus erster Hand erfuhren, signiert der Künstler aus dem Grossraum Frankfurt seine Bildbände auch gerne. Er muss es nur wissen…
Bevor diese Rezension entstanden ist, haben wir „On Every New Day“ mehrfach in die Hand genommen – Imme uns Immer wieder. Wir haben ein paar Blitzlichter dazu gesammelt und hier zusammengetragen. Doch ganz spannend ist etwas anderes: Beim Verfassen dieser Rezension tauchte immer und immer wieder die gleiche Textpassage in unserem Kopf auf:
Let me take you on a trip
Around the world and back
And you won’t have to move, you just sit still
Now let your mind do the walking
And let my body do the talking
Let me show you the world in my eyes
Dies ist eine Strophe aus dem Depeche Mode-Song „World in my Eyes„. 1990 von Martin L. Gore geschrieben, veröffentlicht auf dem Album „Violator„. Böse Zungen würden sagen: „Martin L. Gore drückt in sechs Zeilen aus, wozu Thomas Berlin nur eine Zeile benötigt: „A journey into your imagination“.

Fazit
Fotografisch abwechslungsreich. Künstlerisch spannend. Monographie ohne Repetition. Eine Hommage an starke Frauen. Beeindruckende Druckqualität. Beeindruckendes Cover. Inspiriert von mehreren fotografischen Stilen und deswegen nie langweilig.