„Hallo Thomas (Hallo, alles klar?) Es ist schon wieder Freitag, es ist wieder diese Bar. Und ich muss dir jetzt erzählen, was mir widerfahren ist…“ Was sich nach Musik von den Fantastischen Vier anhört, ist heute das Intro zu einer imposanten Ausstellung: The Last Sentinels. The Last Sentinels? Richtig, so heisst nicht nur ein mittelmässiger Kriegsfilm, sondern vor allem ein imposanter Bildband. Ein Bildband von Jimmy Nelson.
Vernissage in The Photo Gallery Paffrath
Zugegeben, es war Mittwoch. Aschermittwoch. Und nicht Freitag, wie die deutschen Musiker singen. Am Aschermittwoch trafen wir Jimmy Nelson in The Photo Gallery Paffrath. Dem Ort, an dem wir zuletzt Greg Gorman trafen und der bereits wenige Wochen später in Ausgabe 13 zu sehen war.
Doch starten wir von vorne: Die Galeristin Ariane Schneider-Paffrath weiss es immer wieder zu überraschen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie Bryan Adams in ihrer Ausstellung. Kurz darauf Greg Gorman. Und jetzt treffen wir in diesem fotografischen Juwel der Stadt Düsseldorf Jimmy Nelson persönlich. Gross gewachsen und schlanker als eine Gerste. Lederhose, schwarzes Hemd, Stiefel. Auf den ersten Blick wirkt er eher wie ein Rocker. Doch sein Lächeln und seine Ausstrahlung verrät: Er ist eher Entertainer und nebenbei eben Fotograf. Farblich hervorstechen tun nur seine Armbänder. Sie sind Erinnerung an seine Reisen zu den Urvölkern. Aber er ist ein eher zurückhaltender Mensch. Zumindest, bis er aktiv angesprochen wird…
Tête-à-Tête
Wir fragen ihn, wo er aufgewachsen ist und bekommen keine Ortsangabe, sondern einen Zustand: „Als Kind war ich Nomade. Ich bin mit meinen Eltern permanent gereist. Ich habe die Welt entdeckt, aber hatte nicht das, was viele Menschen als „zuhause“ beschreiben. Mein Zuhause ist schon immer dieser wundervolle Planet.“
Da die Nachrichten gerade keinen so „wundervollen Planeten“ aufzeigen, sprechen wir ihn auf den Krieg zwischen der Ukraine und Russland an. Glasklar und analytisch verachtet er diesen Krieg. Es sei kein Krieg eines Landes gegen ein anderes Land. Sondern es sei ein Krieg eines Mannes, der offenbar zu klein geratene Genitalien habe. Wir lachen. Und nutzen diese Aussage für einen Schwenk zu seiner Fotokunst, die rund um uns herum zu sehen ist. Teils in ungewöhnlichen Formaten.
Mit Händen und Füssen
Wir bitten ihn, über seine Arbeiten mit den indigenen Völkern zu berichten. Sofort ist Jimmy Nelson in seinem Element. Wild gestikulierend und seine Mimik gekonnt einsetzend berichtet er über seine Arbeit vor Ort: Das wichtigste sei es, die Würde dieser Menschen anzuerkennen. Immer wieder benutzt er das Wort „Dignity“. Man müsse diese Würde erst inhalieren, um dann sukzessive ihr Vertrauen zu gewinnen.
Das führt uns zu der Frage, wie lange es dauert, bis er die ersten Fotos von diesen fremden Völkern machen könne. Jimmy holt weit aus. Er berichtet vom Sprachproblem und dass seine Artikulierung mit Händen und Füssen damit zusammenhänge, dass er nie die Sprache seines Gegenüber spreche. Er müsse also eine andere Ebene erreichen, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Er schlafe mit diesen Völkern in Zelten und anderen Behausungen. Es sei essentiell für ihn, alleine mit diesen Menschen unterwegs zu sein und dieses Vertrauen über die Zeitachse aufzubauen. Dann sagt er: Die ersten Fotos kann ich oft erst nach einem Monat machen. Manchmal brauche ich aber auch drei Monate bis ich die Kamera herausholen kann.
Today everybody is a photographer
Scharfe Fotos in ansprechender Farbstimmung zu produzieren, sei heute kein Problem mehr. Jedes Handy könne dies und seinen Informationen zufolge habe die Hälfte der Weltbevölkerung inzwischen ein eigenes Smartphone. Vom Säugling bis zum über 100jährigen. In jedem Land. Also fragen wir ihn, wie man sich in der Masse der Fotografen denn überhaupt noch hervortun könne. Er lacht. Er strahlt. Sein ganzer Körper blüht auf, wie sie Sonne am Horizont des Senegal. Als hätte er auf die Frage gewartet.
Er berichtet, dass er auch ein Smartphone besitzt. Er mache damit auch Dinge, die die Menschen Fotos nennen. Aber er unterscheidet. „Smartphonographie“ sei „pushing a button“ – but „not photography“. Angefangen hat er mit der Fotografie im Alter von 17 Jahren. Analog versteht sich. Kleinbild. Bis heute fotografiere er analog. Er habe auch eine kleine Digitalkamera für Zwischendurch, mit der man lustige Dinge machen könne, aber richtige Fotografie sei für ihn Arbeit. Deswegen störe es ihn auch nicht, dass er für ein Foto mitunter drei Monate brauche. Denn neben dem Vertrauen, dass er ganz langsam zu den Völkern aufbaue, gehe es ihm ja auch darum, die Menschen in ihrer Umgebung zu zeigen. Fotos, wie viele Fotografen sie machen, bei denen offenblendig der Hintergrund vollständig ausgeblendet wird, gebe es bei ihm nicht. Er möchte die Menschen in ihrer natürlichen Umgebung zeigen, weil die Menschen für ihn keine Modelle sind. Die Menschen sind für ihn Teil dieses Planeten. Ohne die Menschen könne der Planet vielleicht – aber die Menschen können auf keinen Fall ohne diesen Planeten. Deswegen finden wir auch nur Motive um ihn herum, die viel Landschaft zeigen.
Diese natürliche Umgebung der Völker kennenzulernen, ihnen aufmerksam zuzuhören und zu versuchen, das zu verstehen, was sie ihm mitteilen oder zeigen möchten, ist für ihn die eigentliche Arbeit. Und ganz nebenbei könne er diese Zeit nutzen, um geeignete Locations für seine Motive zu finden. Der letzte Satz klingt verständlich, bekommt aber erst zwei Stunden später richtig Wert. Darum springen wir kurz nach hinten, um dann wieder nach vorne zu kommen… 😉
The Last Sentinels: Sein Lieblingsbild
Bevor wir die Ausstellung verlassen, bitten wir Jimmy Nelson, uns sein Lieblingsbild der Ausstellung zu zeigen. Und wir waren uns sicher, dass es das teuerste wäre, das in der Galerie zu kaufen ist. Doch das ist es nicht. Zielstrebig geht Jimmy mit uns in die hinterste Ecke der Galerie und zeigt uns ein Motiv im Querformat. 16:9 ist es nicht. Geschätzt eher 5:2. Er erklärt, dass es sein Lieblingsmotiv hier sei wegen der Menschen darauf. Aber auch, weil dieses Bild so herrlich seinen Bildlook verkörpert. Er erläutert, dass dieses Motiv streng geometrisch aufgebaut sei und auch die darauf zu sehenden Personen nach Hierarchie geordnet seien und der Stammesführer ganz bewusst, vor einer aus dem Landschaftsbild im Hintergrund entstehenden „hellen Säule“ stehe, damit er im Bild optisch präsenter ist, als seine Stammesmitglieder, die sich eher vor dunklem Hintergrund befinden. Auch die Proportionen zwischen Landschaft und Himmel, den Bildschnitt, aber auch die schiere Breite der Bilder erläutert er. Wir stehen also vor einem Bild, das seine DNA, sein Verständnis von Fotografie verkörpert. Und jetzt wird klar, dass seine Fotokunstwerke keine Zufallsprodukte sind, sondern stoisch und bis ins kleinste Detail geplante Arrangements.
Zurück zu seinem Fotografieverständnis
Wir erfahren, dass er hier und da mit Reflektoren arbeitet und fragen uns, wie er tief im Dschungel nach einem Monat Wartezeit seine Akkus laden könne. Doch seine Antwort ist so einfach, wie plausibel – und erklärt zugleich, warum wir ein Motiv entdecken konnten, dass uns nicht überall scharf erschien: Jimmy Nelson arbeitet mit analogen Grossformatkameras. Mit einer Stofftuch zeigt er uns, wie gross seine Bildplatten sind. Zugegeben: Mit einem Mittelformat von 6×6 hatten wir gerechnet – doch wir liegen falsch. Alle seine Bilder, die er in seinen Büchern und auch in der Ausstellung hier zeigt, sind mit einer „large format camera“ gemacht, deren Namen und Marke Jimmy nicht nennt. Marken und Namen sind für ihn Schall und Rauch. Doch mit dem Stofftuch überrascht er uns wirklich: Er zeigt ein Bildplattenformat, das kaum kleiner als DIN A4 ist. Wir staunen nicht schlecht und schauen zuhause sicherheitshalber selbst noch einmal nach: Das, was Jimmy nur als „Grossformatkamera“ bezeichnet, wird im Internet teilweise schon als „Ultra-Grossformat-Kamera“ bezeichnet – und das trifft es vermutlich. Denn das zurecht gefaltete Stofftuch übersteigt die Masse von 8×10 Inch (20,3 x 25,4 cm) und ist damit im Original schon grösser, als die meisten digital erstellten Bilder jemals ausgedruckt werden.
Einstieg in eine fremde Welt
Die Ausstellung „The Last Sentinels“ in der Fotogalerie Paffrath entführt uns in eine fremde Welt. Freundliche Menschen in ihrer Festtagskleidung sehen wir hier und entdecken die Erde mit ganz anderen Augen. Kein Motiv zeigt eine Grossstadt. Kein Motiv zeigt eine Industrieruine. Im Gegenteil: Wir sehen die Erde, wie sie blüht und gedeiht, wenn der Mensch eben nicht mit Beton und Bulldozern eingreift. Wir sehen stolze Völker mit ihrer eignen Kultur und realisieren erst über die Zeit unserer Anwesenheit, dass eine solche fotografische Reise, wie Jimmy Nelson sie immer wieder macht, vor allem etwas für Entdecker sein muss. Menschen, die ein klein wenig verrückt sind und sich darauf verlassen, dass es schon gutgehen wird.
Doch Jimmy Nelson ist das blühende Leben und damit der lebende Beweis dafür, dass Expeditionen in die Tiefen nicht mit Strassen und Schienen erschlossener Gebiete dieser Erde spannender sein können, als eine Pauschalreise. Klar, man sitzt vermutlich eher im Schneidersitz am Lagerfeuer, anstelle an der Strandbar mit einem frischen Espresso. Aber haben wir das nicht alle längst zuhause?
The Last Sentinels
Unser Blick wird angelockt von einem iMac auf dem in schneller Bildfolge Motive von Jimmy Nelson gezeigt werden. Schier unerschöpflich erscheint sein Fundus. Und immer wieder sind es Völker, von denen man höchstens auf Arte etwas hört und sieht. Doch so sehr das bewegte Bild angelockt hat, so sehr schreckt die schnelle Bildfolge auch ab. Denn als Betrachter bemerkt man schnell, dass der Kopf nicht in der Lage ist, so schnell, so viele unterschiedliche Motive zu verarbeiten. Wir fühlen uns erinnert an Instagram, wo viele Menschen auch binnen weniger Sekunden hunderte Fotos „konsumieren“, aber keins davon in Erinnerung behalten.
So spricht uns der Bildband von Jimmy Nelson neben dem iMac mehr an. Zwar lenkt uns das flackernde Bild des Bildschirms immer wieder ab, aber die schiere Grösse und das haptische Erlebnis dieses Bildbandes zeigt die Vielfalt, die Jimmy Nelson von seinen Reisen mitgebracht hat. Im vorliegenden Bildband hat er die Motive fein säuberlich nach Ländern und Stämmen sortiert. So präsentiert, fällt auf, wie unterschiedlich eingeborene Stämme doch sind. Erst im direkten Vergleich bemerken wir, dass viele Stämme ähnlich bunte Kleidung und Bemalung bevorzugen, aber eben dennoch in den Details zahlreiche Unterschiede liegen. Und so sehr die Ausstellung hier „aus einem Guss“ wirkt, so hilft der übrigens in der Galerie Paffrath auch käuflich erwerbbare Bildband erst, dass wir hier nicht Motive von einem einzigen indigenen Volk, sondern von zahlreichen unterschiedlichen Völkern betrachten können. In einem Satz: Es gibt viel zu entdecken.
Jimmy Nelson
Jimmy ist Menschenfreund. Er respektiert die Unterschiedlichkeit der Menschen und sieht genau in diesem Punkt den Reiz, den unsere Rasse ausmacht. Er mahnt davor, einzelne Stämme auszurotten und setzt mit seiner Stiftung auf Aufklärung. Ein hochemotionaler Künstler, dessen Fotokunstwerke bewegen. Aber dessen persönliche Präsenz motiviert, die Stimme zu erheben, wenn es darum geht, Minderheiten und ihre Kulturen zu schützen.
Besondere Formate, tolle Motive
Erst beim zweiten oder dritten Betrachten fällt auf, dass The Photo Gallery Paffrath hier vor allem epische Motive zeigt. Fotokunst, die überwiegend in Farbe gezeigt wird. Das liegt zum einen an der typischen DNA des Künstlers Jimmy Nelson, wird aber auch dadurch unterstrichen, dass es kaum Motive in den klassischen Formaten 3:2 oder 4:4 gibt. Stattdessen überwiegen Motive im Querformat, die ihre optimale Wirkung vermutlich dann entfalten, wenn sie über der heimischen Couch, parallel zum langen Esstisch oder auch hinter dem Empfangstresen eines Hotels gezeigt werden. Egal wo diese Kunstwerke ihr neues Zuhause finden werden, bleibt eins klar: Diese Motive sprechen für sich alleine – und sie sorgen dennoch für Gesprächsstoff. Auch wenn keine der gezeigten Personen Influencer, Model, Filmstar oder Musiker ist.
Die Ausstellung in der Fotogalerie Paffrath ist noch bis zum 30. April 2022 in Düsseldorf zu sehen. Sonntag und Montag sind Ruhetage. Sonderbesichtigungstermine sind nach vorheriger Vereinbarung möglich.