Das war selbst für uns ein besonderer Anlass: Fotografiska hatte zur Ausstellungseröffnung nach Stockholm eingeladen. Der Grund: Die neue Ausstellung von Anton Corbijn. Der Name der Ausstellung: „Corbijn, Anton„. Kurz, prägnant auf den Punkt. Nur der Satz „Ich gehe zu Corbijn, Anton von Anton Corbijn“ geht nicht ohne Zungenbrecher über die Lippen. Aber jede Umschreibung hätte den Inhalt der Ausstellung vermutlich nicht besser getroffen. Also: Haken dran!

70 Jahre und 50 Jahre – Jubiläum
In „Corbijn, Anton“ feiert der Künstler zusammen mit Fotografiska gleich zwei Jubiläen. Am 20. Mai 2025 ist Anton Corbijn 70 Jahre jung geworden. Zugleich feiert er mit dieser Ausstellung 50 Jahre Fotografie. Und damit ist der Inhalt der Ausstellung schon beschrieben: Von den 70er Jahren bis heute sind die Exponate, die überwiegend in drei Grössen gerahmt präsentiert werden: Circa 60 cm, circa 120 cm und circa 180 cm. Jeweils im Quadrat. Hinzu kommen wechselnde Projektionen, die von der Decke bis zum Fussboden reichen und den grossen Saal formatfüllend einnehmen. Schlicht beeindruckend. In einem kleinen Raum zwischen zwei grossen Ausstellungsräumen werden zusätzlich Musikvideos bzw. Filmausschnitte gezeigt, die aus Anton’s Feder stammen.

Fotografiska Stockholm
Vom 13.06.2025 bis zum 12.10.2025 zeigt Fotografiska die Ausstellung „Corbijn, Anton“. Auf gefühlt 1.000 qm Fläche werden knapp 200 Exponate gezeigt. Sie alle tragen unverkennbar die Handschrift von Anton Corbijn. Doch man muss die Ausstellung selbst sehen, um die Wirkung der Bilder zu erleben. Denn „50 Jahre Fotografie“ hört sich erst einmal eher langweilig an. Doch das Gegenteil ist der Fall: Immer und immer wieder entdeckt man Motive, die man eigentlich schon seit Jahren kennt, aber aktuell gar nicht mehr präsent im Kopf hat. Steht man aber vor den Bildern werden sofort Assoziationen wach, die Minuten zuvor noch im „Hinterstübchen“ versteckt waren.



Warum das so ist? Nun, Anton Corbijn hat zahlreiche Musikgrössen auf seine analogen Fotografien gebannt. Viele Künstler sind weltbekannt; man erkennt ihre Gesichter oder kennt die Motive von Plattencovern oder den Innenseiten der Booklets, die früher regelmässig LP’s und CD’s beigefügt waren. Doch hier sind die Motive grösser und von erstklassiger Qualität. Ganz anders, als in einem CD-Booklet.
Erkennt der Betrachter der ausgestellten Motive die Band oder den Solokünstler, wird in eben diesem „Hinterstübchen“ virtuell die Schallplatte dazu aufgelegt. Die Musik kommt in unsere Wahrnehmung hinein und ergänzt das Bild, das wir vor uns sehen. Erinnerungen werden wach. Emotionen werden geweckt.

Bestes Beispiel: Wir standen in einem Raum, in dem Fotografiska Bilder aus dem Projekt „Licht“ zeigt (diese wurden im letzten Herbst erstmals in der Galerie Anita Beckers in Frankfurt gezeigt). Eins der Motive zeigt Herbert Grönemeyer. Als wir neben dem Motiv standen, sagte die Dame neben uns zu ihrer Begleiterin: „This is a German songwriter. Anton made a video with an polar bear at the beach. A funny one.“
Oder im gleichen Raum, eine Ecke weiter: „Das ist Neneh Cherry. Erinnerst du dich noch an den Song „Man Child„? Ein Megahit“, hören wir dort. Auf deutsch.

Internationale Künstler, internationale Gäste zum Eröffnungsevent
Logisch, bei einer solchen Veranstaltung stammen die meisten Gäste aus der näheren Umgebung. Doch neben schwedisch und englisch war vor allem niederländisch und deutsch an vielen Ecken zu hören.
Auf dem Eröffnungsevent war uns vor allem ein Gast aufgefallen: Er war einer von zwei DJ’s vor Ort, uns aber gänzlich unbekannt. Auffällig jedoch: Zahlreiche Gäste liessen sich mit ihm fotografieren oder machten selbst ein Selfie mit ihm. Mit seinem Nizzer Ebb T-Shirt zollte er dem Sänger der Band Tribut, dessen Tod exakt an diesem Tage bekanntgegeben worden war. Aber warum war er der heimliche Star des Abends?

Das fragten wir eine neben uns tanzende Frau, die mitten im Tanz ein Video vom ihm drehte: „Das ist Fredrik. Fredrik ist der wohl bekannteste Musikjournalist Schwedens“, berichtete sie uns auf Englisch, bat uns aber, ihn doch direkt anzusprechen. Gesagt getan: Fredrik berichtete, dass er Nizzer Ebb einst selbst interviewt hatte und sehr betroffen war vom Tod von Douglas McCarthy.
Anton selbst kam nur kurz zu Wort an diesem Abend. Auch die offizielle Laudatio von den Machern von Fotografiska war kurz und prägnant. Anton folgte mit wenigen Sätzen, bedankte sich und ward wieder verschwunden. Grosse Menschenmengen, so sagt man, sind nicht seine bevorzugte Umgebung.

Trotzdem war der Eröffnungsabend besonders: Gefühlt 1.000 Gäste waren vor Ort, um die Ausstellung zu sehen. Überall wurden Fotos gemacht und es wurde gefachsimpelt. Ob er weiterhin alle Bilder mit seiner analogen Hasselblad erstellt? Viele der Gäste sind nicht nur „Members“ bei Fotografiska (und damit zu jeder Ausstellungseröffnung eingeladen), sondern offenbar befreundet. Kein Wunder eigentlich: Fotografiska eröffnete hier in Stockholm im Mai 2010 die Pforten. Annie Leibovitz war die erste Künstlerin, die in den Hallen des ehemaligen „grossen Zollhauses“ ausgestellt wurde. Seitdem lockt Fotografiska nicht nur mit namhaften Künstlern, sondern hat zudem Niederlassungen in Tallinn (2019), New York (2019), Berlin (2023) und Shanghai (ebenfalls 2023) eröffnet. Und schon 2027 folgt mit Oslo die nächste Fotografie-Subsidiary.



Das Konzept, kein staatliches Museum aufzubauen, sondern ein gewinnorientiertes Unternehmen, welches sich durch eine „Clubmitgliedschaft“ und Events wie diesem von klassischen Vernissagen deutlich abhebt, scheint aufzugehen.
Die Gäste überwiegend im Alter 35 bis 60, sehr viele davon selbst mit Kameras ausgestattet, neugierig und interessiert, kommunikationsoffen und vor allem feierwütig. Für uns (mit deutschen bzw. schweizerischen Wurzeln) wirkte es zu Beginn eher fremd, auf einer Vernissage selbst zu tanzen, aber die Wirkung war verblüffend: Denn den Soundtrack lieferte der Künstler, um den sich die Ausstellung drehte, Anton Corbijn, selbst.

Songs von U2, Coldplay, Depeche Mode, Prince, Rolling Stones, Eurythmics, Slash, Joy Devision oder eben Nirvana, Muse, David Bowie oder Metallica… diese Namen wecken in den Menschen, die grob zwischen 1960 und 1990 geboren sind, eben Gefühle ihrer Jugend. Und Fotografiska bietet mit den ikonischen Fotografien den „Soundtrack“ dazu… der an diesem Abend von zwei DJ’s eingespielt wird.

Artist talk mit Anton Corbijn
Während Anton während der Eröffnungsparty nur kurz zu Wort kam und vermutlich schneller das Weite gesucht hatte, als manch ein Gast erhofft hatte, stand er am nächsten Tag beim Artist Talk im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nach einer kurzen Einleitung durch Fotografiska kamen Fredrik Strage und Anton Corbijn auf die Bühne. Hinter ihnen die deckenhohen Projektionen an der Wand, vor ihnen rund 200 Gäste auf den Stuhlreihen.
Sieht man einmal davon ab, dass es anfangs ein technisches Problem dabei gab, wenn Anton passend zum aktuellen Talk-Thema ein bestimmtes Bild zeigen wollte, lief der Abend einfach perfekt ab. Pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk wurde der Artist Talk von Fotografiska eröffnet. Statt der geplanten 45 min lief der Talk fast eine Stunde und die anschliessenden Fragen aus dem Publikum mussten dann irgendwann abgeklemmt werden, da ja zusätzlich eine Signierstunde geplant war, in der Anton nicht nur lokal verkäufliche Bildbände, die seinen Namen tragen, signierte, sondern zusätzlich auch alle mitgebrachten Dinge, die irgendwo mit Anton Corbijn in Verbindung standen.

Besonders ins Auge gefallen ist uns dazu ein Tour-Booklet, das es rund um die Violator-Tour (Depeche Mode, 1990) exklusiv an den Merchandising-Ständen zu kaufen gab. Davon waren gleich mehrere Exemplare vor Ort. Auch Bildbände von U2 und Depeche Mode gehörten zu den Exponaten, die Anton geduldig signierte und stets mit Namen und Datum versah. Doch es gab auch Kuriositäten… ein Gast hatte seine komplette CD-Sammlung mit Depeche Mode Covern aus den transparenten Kunststoff-Hüllen entnommen und lies sich nun jedes einzelne von Anton Corbijn gestaltete Cover handsignierten…

Doch nun zum Artist Talk selbst
Fredrik gab gleich zu Beginn zu, dass er ein wenig aufgeregt sei und die letzte Nacht kaum schlafen konnte. Ob das mit dem Eröffnungsabend und der Tatsache, dass Fredrik selbst hinter dem DJ-Pult wohl die meisten Tanz-Schritte absolviert hatte, wird für immer ein Geheimnis bleiben, aber Anton Corbijn reagierte auf dieses Talk-Intro souverän. Er sagte: „Don’t worry, I don’t say much.“

Doch der Talk verlief ganz anders, als das Intro vermuten lässt. Fredrik brauchte nur ein Stichwort zu geben und Anton plauderte los. Ungezwungen, spontan, frei von jedem Manuskript und irgendwie charmant. Natürlich ging es auch um das ikonische Plattencover von Joy Devision, von dem er über Jahre hinweg nicht verraten hat, in welcher U-Bahn-Station Londons dies aufgenommen worden war, damit es nicht tausendfach nachgestellt werden würde. Aber auch Depeche Mode wurden immer wieder zum Thema, weil die Band sehr viel mit Anton verbindet und er weit mehr für sie produziert, als nur Plattencover oder Pressefotos.
Das Video von „Enjoy the silence“ hatte Ferdrik als Beispiel herausgesucht, weil es zum einen aus Anton’s Feder stammt und zum anderen nur den Sänger Dave Gahan zeigt, nicht aber seine Bandkollegen. Den künstlerischen Prozess, der von der ersten Idee bis zur Videorealisierung entsteht und auch die finanziellen Opfer, die Anton Corbijn für seinen Film „Control“ auf sich genommen hat, zeigen, dass man als Fotograf eine Vision braucht, aber eben auch nicht an sich selbst zweifeln darf, sondern seinen Ideen, ja auch seinem Bauchgefühl, folgen muss.
Denn wer sich länger mit dem Sohn eines evangelischen Pfarrers, bei dem diverse andere Familienmitglieder ebenfalls „Preacher Man“ waren, auseinandergesetzt hat, der wird Parallelen entdecken. Beim Artist Talk in Schweden berichtete er davon, wie die Video-Idee für „Enjoy the Silence“ entstanden ist, doch Kenner wissen, dass die Geschichte für „Mensch“ von Herbert Grönemeyer kaum anders war: Anton hatte den Song das erste Mal gehört, ihm kam ein Eisbär in den Sinn und ab dem Moment wurde die einzige Idee nur verfeinert, aber nicht mehr über Bord geworfen oder gar auf links gedreht. Intuition eben.
Doch wie cool das eigentlich ist, wird einem erst bewusst, wenn man das Musikvideo von „Enjoy the Silence“ noch einmal anschaut. Dieser Song ist vermutlich der erfolgreichste Song der Band Depeche Mode. Und zugleich ist dieses Video das vermutlich am häufigsten gesehene Musikvideo von Depeche Mode und Anton Corbijn. Doch erst wer genau hinschaut, wird feststellen, dass der Sänger von Depeche Mode nicht nur das einzige Bandmitglied ist, welches in diesem Video gezeigt wird, sondern das ganze Video über nahezu nicht gesungen oder getanzt wird.

Expect the unexpected
Vermutlich sind es diese unerwarteten Dinge, die den künstlerischen Werken von Anton Corbijn eine solche Bedeutung geben. Coldplay zum Beispiel. Von hinten fotografiert, im See oder im Meer. Man muss wissen, dass es sich um Coldplay handelt, aber weiss man es, zahlt ein Motiv wie dieses unheimlich auf die Stärke der Band ein.
Richtig beobachtet hatte Fredrik, dass die wenigsten seiner ikonischen Fotografien im Studio entstanden sind. Und Anton nutzt die Gelegenheit, darüber zu berichten, wie das Bild von Prince, das mitten in New York, direkt neben dem Bankenviertel entstanden ist, zustande kam und wie schwer es für „The Artist formerly known as Prince“ doch war, das Bild nicht im Hotelzimmer aufzunehmen.

Immer und immer wieder nutzt Anton die Gelegenheit, seinen trockenen Humor zu beweisen. Bestes Beispiel: Fredrik spricht Anton auf sein Bild von Virgil Abloh (einem amerikanischen Fashion Designer und Unternehmer) an: „You Took a picture where Virgil was laying on his backside on the street and there is big blue could above him. He died shortly after you took that picture.“ Anton Corbijn: „I don’t think that this was somehow related…“

Für wen lohnt sich der Besuch?
Stockholm alleine ist schon eine Reise wert. Ein Land, in dem man selbst beim Bäcker nicht mehr mit Bargeld bezahlen kann. Ein Land, in dem einem Gast der Chef der Pizzeria persönlich vorgestellt wird und ein Land, in dem Bahnsteige mit gepflegten Teppichböden ausgelegt sind.
Doch gerade für kulturell interessierte Gäste lohnt sich die Stadt besonders: Zahlreiche Museen zieren das Stadtbild und die Menschen sind wirklich sehr offen für verschiedene Kunstformen und sehen dies als wichtiges Kulturgut an.

Doch auch Fotografiska im Allgemeinen und die Ausstellung „Corbijn, Anton“ im Speziellen lohnen den Besuch in Schweden. Drei oder vier Tage eintauchen in eine total sympathische und extrem gepflegte Stadt hat einfach Charme und ist eine lohnenswerte Idee für einen Städtekurztrip.
Und wenn man, wie Fredrik, Connections zur lokalen Musikpresse hat, dann lohnt es sich gleich doppelt. Denn dann kann man (wie er) am Abend des Artist Talks noch zusammen mit einem total sympathischen Musikredakteur auf ein Festival gehen, wo Kraftwerk live spielen… eine Band, von der Anton in Barcelona weltbekannte Einzelportraits anfertigte…
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