Thomas Gerwers ist Künstler der Ausgabe 09. Zuletzt trafen wir ihn auf Usedom, obwohl wir räumlich keine 50 km auseinander wohnen. Zusammen mit Andreas Jorns und Andy Scholz haben wir über die Bedeutung des Fotobuches gesprochen und dabei verschiedene Perspektiven geteilt. Entstanden sind daraus ein Telefonat, eine Mail und nun ein Interview. Welcome on stage, Thomas Gerwers!
SWAN Magazine: Thomas, berichte mal über Deine eigene Fotografie. Wann und wo fotografierst Du gerne?
Thomas Gerwers: Ich fotografiere anfallsweise. Ich bereue oft, wenn ich keine Kamera dabeihabe, weil mir dann doch Dinge begegnen, die ich wahnsinnig gern fotografieren würde. Also versuche ich, meine Kamera eigentlich immer mitzunehmen. Was für mich dabei wichtig ist: Ich nutze bewusst ein extrem minimalistisches Equipment, weil ich mich nicht belasten will. Über diese Reduktion finde ich einfach und spielerisch zu meiner Art der Fotografie.

SWAN Magazine: Wie kommst Du in diesen Kreativmodus hinein?
Thomas Gerwers: Es gibt Tage, da kannst du es einfach nicht erzwingen. Entweder es läuft, dann bist Du im Flow, oder eben nicht – dann kannst und du Kreativität auch nicht erzwingen.
SWAN Magazine: Du bist viel unterwegs. Inspirieren Dich Reisen im Hinblick auf Deine Fotografie oder fotografierst Du auf Reisen rein dokumentarisch?
Thomas Gerwers: In meiner Fotografie geht es nicht um Dokumentation. Durch meine journalistische Tätigkeit bin ich viel unterwegs. Während dieser Reisen bin ich stark in Termine eingebunden. Ich nehme mir dann aber in Momenten, in denen ich Freiraum habe, gerne die Zeit zum bewussten Flanieren mit der Kamera.
Einige der Orte, die ich immer wieder besuchen durfte, sind mir heute natürlich viel vertrauter als beim ersten Besuch. Je mehr ich mich in einem halbwegs vertrauten Terrain befinde, desto eher entdecke ich Dinge, die ich beim ersten Besuch gar nicht aufnehmen konnte, weil alles neu war. Ich spreche ja nicht vom Nachbarort im gleichen Bundesland, sondern von fremden Kulturen, in denen wir nicht zuhause sind. Dort einzutauchen, sorgt bei mir in gewisser Weise für Überwältigung oder Überforderung. Wenn man Wahrnehmung als ein Sieb beschreiben würde, dann ist das Sieb zu Beginn sehr grob und hilft nur dabei, die Basics zu erfassen. Mit der Zeit wird das Sieb feinmaschiger. Das eröffnet neue Perspektiven und die Chance, Besonderheiten eines Landes auch in der Fotografie klarer herauszuarbeiten. Dabei habe ich nicht das Gefühl, dass ich irgendetwas dokumentieren muss.

SWAN Magazine: Um was geht es Dir dann in Deiner Fotografie?
Thomas Gerwers: Ich bin jetzt gerade 60 geworden und habe mich Zeit meines Lebens mit der Fotografie beschäftigt. Wichtigste Erkenntnis: Wenn du mit Technik und mit Regeln nicht weiterkommst, verlass dich auf deine Intuition. Ich fotografiere also intuitiv. Erst beim Editing ergeben sich aus dem, was entstanden ist, Themen. Mein Projekt „Whispers of the Singular“ ist dafür ein gutes Beispiel.
SWAN Magazine: Ist dieses Projekt durch Zufall entstanden oder ist es ein seit langem geplantes Projekt?
Thomas Gerwers: Weder noch! „Whispers of the Singular“ basiert auf Fotos aus einem Zeitraum mehrerer Jahre, in denen ich auf Geschäftseisen nach Japan fotografiert habe. Die Serie ist ein Destillat aus Impressionen, das sich erst mit grossem zeitlichen Abstand herauskristallisiert hat.
Der rote Faden ergibt sich aus meiner persönlichen Wahrnehmung, die verfestigten Konstanten folgt. Es ist die Summe meiner persönlichen und auch meiner fotografischen Erfahrungen, die sich in meinen Bildern widerspiegelt. Es sind die leisen Momente, die meine Fotografie ausmachen.
SWAN Magazine: Worum geht es in „Whispers of the Singular“?
Thomas Gerwers: Es geht um ein Gefühl, dass wir alle als Individuen in der Massengesellschaft kennen. Wir sind ständig vernetzt, interagieren mit anderen, sind aber eigentlich isoliert. „Whispers of the Singular“ greift damit ein ganz aktuelles Thema auf.


SWAN Magazine: Spürst Du in der Fremde etwas anderes als in der Heimat?
Thomas Gerwers: Ja, natürlich versetzt mich das, was ich in fremder Kultur erlebe, auf vielfältige Art und Weise in Staunen. Jede Umgebung hat ein eigenes „Normal“ – und vermittelt damit auch ein einzigartiges Gefühl. Japan ist auf der einen Seite sehr westlich und sehr modern, bleibt für einen Europäer wie mich aber auch sehr unergründlich und folgt ganz eigenen Regeln. Wir in Europa legen sehr viel Wert auf Individualität; der Durchschnittsjapaner jedoch möchte gar nicht als Individuum wahrgenommen werden oder irgendwie aus der anonymen Masse herausragen. Japan ist geprägt von vielen Konventionen, die auf Rücksichtnahme abzielen. An dieser Stelle unterscheidet sich Japan total von Europa oder anderen Ländern der westlichen Welt.
Mein Lieblingsbeispiel: Wenn japanische Mitarbeiter früh zur Arbeit kommen, nehmen die den Parkplatz, der am weitesten vom Eingang entfernt ist, damit die Kollegen, die später kommen, nicht so weit laufen müssen und dennoch pünktlich sein können. Unvorstellbar in Deutschland, oder?
SWAN Magazine: Je länger ich mich mit Deiner Serie beschäftige, desto mehr wird Deine Beobachterrolle für mich spürbar. Du bist mittendrin in dieser Kultur, aber eben nicht Teil von ihr.
Thomas Gerwers: Das hast du schön beschrieben. Wenn du in einem fremden Land bist, sind deine Sinne geschärft. Teil des Ganzen können wir als Europäer in Japan nicht sein, weil wir schon optisch eine Ausnahmeerscheinung sind, erst recht bei meiner Körpergrösse.
Zugleich hilft es aber auch, eine Sonderrolle einzunehmen. Hinzu kommt: In Japan wirst du so gut wie nie negatives Feedback bekommen, wenn du ein Foto machst.
SWAN Magazine: In Deiner Serie habe ich kein Bild gefunden, bei dem eine Person bewusst eine Pose eingenommen hat. Im Gegenteil: Das Foto „passiert“ förmlich und das Leben „geht einfach weiter“.
Thomas Gerwers: Es gibt durchaus Japaner, die bewusst Haltung einnehmen, etwa wie versteinert lächeln und mit den Fingern einen V bilden. Diese Fotos habe ich bewusst nicht in die Auswahl genommen, weil in der Streetphotography essentiell ist, dass der Fotograf auch indirekt nicht zu einem Teil des Bildes wird.
Wenn sich eine solche Situation ergibt, mache ich aus Höflichkeit ein Foto, weil sich Japaner darüber freuen. Aber um mit meinen Bildern das auszudrücken, was ich zeigen will, ist es von essenzieller Bedeutung, dass ich unbemerkt bleibe. Darum versuche ich auch – soweit das bei meiner Grösse gelingt – mich unauffällig zu bewegen und vermeide bewusst, zu viel Equipment mit mir herumzuschleppen. Damit macht man die Menschen nur auf sich aufmerksam – und dann wirken die Bilder direkt gestellt.
Ich fotografiere daher auch sehr schnell. Klar, das führt auch zu Ausschuss. Aber ich gebe dir mal ein konkretes Beispiel: Es gibt dieses eine Bild von mir, welches einen Mann mitten auf einer Kreuzung auf dem Zebrastreifen zeigt. Um ihn herum viele andere Menschen.
SWAN Magazine: Das ist lustig. Genau dieses Bild habe ich gerade auf meinem Bildschirm (lacht).

Thomas Gerwers: Wenn man im Stadtteil Shinjuku an einer Fussgängerampel steht, kann man zusehen, wie sich binnen weniger Momente auf der gegenüberliegenden Seite eine unglaubliche Masse an Menschen bildet. Wenn die Ampel dann auf grün springt, strömt diese Stampede auf einen zu, läuft ineinander und teilt sich wieder.
Wenn du dieses Phänomen einmal beobachtet hast, dann kannst du dich auch fotografisch darauf vorbereiten. Für dieses Bild habe ich meine Kamera auf eine Entfernung von 1,5 Metern eingestellt und eine mittlere Blende gewählt. Ich wartete mit den anderen Menschen an der roten Ampel, wir liefen los, und ohne die Kamera ans Auge zu nehmen, löste ich in passenden Momenten aus. Das Bild ist eines von vielleicht zehn Auslösungen und damit in gewisser Weise ein Zufallsprodukt.
SWAN Magazine: Du gibst dem Zufall also einen Rahmen?
Thomas Gerwers: Ja. Denn wenn ich versucht hätte, das Bild bewusst zu komponieren, wäre es so nie entstanden. Man muss dem Zufall Raum geben. Man kann nicht alles kontrollieren – schon gar nicht in der Streetphotography. Und genau das macht die Magie aus. Manchmal bin ich selbst überrascht, wenn ich die Bilder sichte.
SWAN Magazine: Es gibt ein Motiv in der Serie, das aufgrund seiner Andersartigkeit ein wenig heraussticht: Du zeigst die nächtliche Stadt von oben. Was macht dieses Motiv inmitten dieser Serie, in der die Menschen eine zentrale Rolle spielen?

Thomas Gerwers: Tokyo ist eine Stadt, die keine europäische Struktur hat. Diese Ordnung im Chaos, dieses organisch Gewachsene, diese Strassen auf verschiedenen Ebenen, die Schneisen, die die Verkehrswege schneiden, die Vielfalt der Strukturen, das alles zusammen entfaltet die Wirkung eines abstrakten Gemäldes.
SWAN Magazine: Für mich gab es beim Betrachten dieser Bilder ein Deja vú: Vor ein paar Jahren habe ich eine längere Reise durch Italien gemacht. Dabei ist mir aufgefallen, dass nahezu jeder permanent telefonierte. Im Café, auf der Strasse, im Bus, in der U-Bahn, beim Einkaufen … Heute erlebe ich genau das auch bei uns. Und die, die nicht telefonieren, schauen ein Video nach dem anderen. Mit unserem Kopf befinden wir uns also gar nicht dort, wo sich unser Körper befindet.
Genau dieses Bild zeichnest Du in meinen Augen mit Deinen Bildern wie dem der vier Frauen, die zwar nebeneinander, aber mit sichtlichem Abstand zueinander stehen.
Thomas Gerwers: Dabei hätten sie auch miteinander reden können…
SWAN Magazine: Meine Frage an Dich: Steht hinter einem solchen Motiv eine Botschaft?
Thomas Gerwers: Nein. Das Bild beinhaltet keine versteckte Message. Es ist einfach ein Abbild unserer modernen Gesellschaft. Die Menschen interagieren nicht mehr mit ihresgleichen in nächster Umgebung. Das Smartphone ist eines der prägendsten Merkmale unserer heutigen Zeit. Es beherrscht in gewisser Weise unser Leben. Es löst viele Probleme, zugleich eröffnet es uns auch virtuelle Räume. Und diese sind offenbar attraktiver als die Realität. Vielleicht haben auch viele Menschen Angst vor dieser Realität und empfinden den Smartphone Screen als „safe space“.
SWAN Magazine: Zuerst fiel mir auf: Das Bild wirkt schief. Doch je länger ich das Bild betrachtet habe, desto klarer wurde für mich, dass Anschnitt und Rotation eine bewusste Entscheidung sind, um den Fluss, in dem sich die Menschheit befindet, stärker zu betonen.
Thomas Gerwers: Danke für deine Interpretation. Ich finde eine solche Reflektion sehr aufschlussreich. Denn jeder betrachtet ein solches Motiv anders – und das ist auch völlig in Ordnung. Aber an einer Stelle muss ich dich desillusionieren: Ich räume der Sorgfalt nicht immer den Raum ein, den manch einer erwartet. Für mich sind die Füsse für das Bild insgesamt zum Beispiel nicht relevant. Dass du dort aber einen Sinnzusammenhang herstellen kannst, finde ich total spannend. Ich wäre da selbst vermutlich nicht draufgekommen.

SWAN Magazine: Heisst das, dass Deine Bilder „out of cam“ sind, also völlig unbearbeitet?
Thomas Gerwers: Nein, meine Bilder sind nie „out of cam“. Aber ich fotografiere tatsächlich ausschliesslich in JPG. Ich kann richtig belichten und brauche viele der Reserven, die ein RAW bietet, einfach nicht. Ich stelle meine Kamera grundsätzlich auf hohen Kontrast ein. Es geht mir nicht um Durchzeichnung in Höhen und Tiefen, sondern darum, den Blick zu lenken.
Natürlich bekommen die Bilder im Nachhinein noch einen Look. Der ist bei mir von Serie zu Serie unterschiedlich. In „Whispers of the Singular“ habe ich Farbe und Schwarzweiss bewusst gemischt. Sehr kontrastreich, viel Schwarzanteil. Das ist der gemeinsame Nenner. Mir ist das wichtig, um auch visuell eine Klammer zu schaffen.
SWAN Magazine: Du hast eben nichts über Deine Kamera verraten, hast aber bereits ausgeführt, dass es Dir wichtig ist, dass Dein Equipment klein und leicht ist.
Thomas Gerwers: Besitz belastet. Ich fotografiere mit unterschiedlichen Leica Kameras, dazu lichtstarke Festbrennweiten und ein Ersatzakku, „Travel light“ ist mein Motto. Aber es ist eigentlich egal, womit du fotografierst. Viele Menschen denken, dass die Kamera entscheidend ist. Dann kommt die Phase, in der man glaubt, dass das, was vor der Kamera zu sehen ist, schlussendlich das Wichtigste sei. Doch richtig ist, dass das, was hinter der Kamera ist, über den Erfolg oder Misserfolg eines Bildes entscheidet – mehr als die beiden anderen Aspekte zusammen! Viel wichtiger als Megapixel oder Autofokusfunktionen sind das Wissen, die Routine und die daraus entstehende Sicherheit in Sachen Fotografie.

SWAN Magazine: Das ist eine bemerkenswerte Aussage für jemanden, der so wie Du jede neue Kamera schon vor der Veröffentlichung auf Herz und Nieren prüft. Für Deine eigene Fotografie ist aber genau das, wovon Du in gewisser Weise lebst, gar nicht entscheidend?
Thomas Gerwers: Ich bin mir bewusst, dass dieses Statement durchaus Zündstoff bietet, gerade weil ich weite Teile seines Berufslebens damit verbracht habe, technische Innovationen rund um Kameras und Objektive anzupreisen. Aber vielleicht kann ich dies auch nur so klar benennen, weil es die Quintessenz aus 30 Jahren ist, in denen ich mich auch mit der Fotografie als Kunstform beschäftigt habe.
SWAN Magazine: Wie siehst Du die technischen Innovationen der Kameraindustrie dann heute persönlich?
Thomas Gerwers: Für viele Innovationen gibt es tatsächlich spezielle Anwendungsbereiche und es ist gut, dass sich die Kameratechnik weiterentwickelt. Aber den für Technik begeisterungsfähigen Menschen wird das Gefühl vermittelt, dass bessere Technik automatisch zu besseren Bildern führt. Das ist in Teilbereichen der Fotografie tatsächlich so. Sportfotografen zum Beispiel profitieren enorm von der Entwicklung der letzten Jahre. In Bezug auf die fotografische Erzählkunst ist Kameratechnik aber sicher kein Erfolgsgarant. Heutige Kameras und Objektive liefern eine Plastizität und eine klinische Schärfe, die man als Stilmittel einsetzen kann. Manchmal ist Unschärfe und Inperfektion aber viel wirkungsvoller.
SWAN Magazine: Das scheinen immer mehr Fotobegeisterte zu verstehen…
Thomas Gerwers: Absolut! Warum sonst sollten die Menschen alte Kameras kaufen, Vintage-Objektive adaptieren oder wieder analog fotografieren?


SWAN Magazine: Für mich gab es vor einigen Jahren einen Aha-Effekt: Nach langen Jahren hatte ich mal wieder analog fotografiert. Als der Film aus dem Labor kam, fand ich faszinierend, dass die Bilder eine ganz andere Wirkung entfalteten. Ich habe das wirklich als Wohltat empfunden. Das hat mich beinahe mehr beschäftigt als die Bilder selbst.
Thomas Gerwers: Ich schätze ein bestimmtes, nur einfach vergütetes Voigtländer Objektiv wirklich sehr. Gemessen am aktuell Machbaren ist das Objektiv weit hinter der Zeit… Aber darum geht es in der künstlerischen Fotografie ja auch nicht. Es geht nicht darum, die Realität bestmöglich zu reproduzieren. Das wäre viel zu handwerklich. Es geht darum, die Dinge auf die eigene Art und Weise zu interpretieren. Dann wirst du als Fotograf auch im Bild spürbar und das Foto nahbar.
Gerade die künstlerische Fotografie hat ja viel mehr mit wahrnehmungspsychologischen Aspekten zu tun als mit Technik. Da geht es auch um Seelenzustände. Jeder Mensch sammelt im Leben seine Erfahrungen. Und wenn du sensibel bist und mit offenen Augen herumläufst, bietet dir die Realität total viele spannendes Aspekte. Ich persönlich bin ein sehr leidenschaftlicher Verfechter der subjektiven Fotografie. Fotografie hat mit Sinnlichkeit zu tun, die ich im Bild spüren will.
SWAN Magazine: Nochmal zurück zu Deiner Serie. Geht „Whispers of the Singular“ weiter? Ist das ein fortlaufendes Projekt, oder ist das Thema auserzählt?
Thomas Gerwers: Die Serie umfasst wesentlich mehr Bilder, als ihr hier zeigen könnt. Dennoch könnte ich sie weiter ergänzen, ohne mich zu wiederholen. Das Thema ist aktuell und ich werde sicher wieder Motive finden, nicht nur in Japan.
Aber grundsätzlich bin ich sehr offen für Neues. Es bieten sich immer wieder Themen, man muss nur mit offenen Augen durch die Strassen gehen. Beendet sind meine Serien dann, wenn ich tot bin. Bis es so weit ist, werde ich hoffentlich weiter fotografieren können.

SWAN Magazine: Versuche doch einmal Deine Arbeitsweise zu erläutern, wenn Du Menschen fotografierst…
Thomas Gerwers: Das ist je nach fotografischem Projekt natürlich etwas unterschiedlich. Auch in der Herangehensweise. Aber grundsätzlich empfinde ich die Arbeit mit Menschen vor der Kamera persönlich herausfordernd. Warum? Weil mich Menschen eigentlich stressen. Die Kamera hilft mir dabei, das zu regulieren, weil in der Rolle des Beobachters bleiben kann.
Ich will vor allem die flüchtigen Momente festhalten, um sie noch einmal in Ruhe betrachten zu können. Ich arbeite aus diesem Grunde auch gerne mit Bewegungsunschärfe. Denn ab einer 1/8 Sekunde passieren Dinge im Bild, die man gar nicht wahrnehmen kann.
SWAN Magazine: Allein das Schlagwort „1/8 Sekunde“ bringt mich zu Jim Rakete…
Thomas Gerwers: Spannend. Die 1/8 Sekunde verbinde ich nicht mit ihm… Was hat er dazu gesagt?
SWAN Magazine: „1/8 Sekunde“ ist der Titel eines sehr spannenden Portrait-Bildbandes von ihm. Nicht ganz neu, aber zeitlos. Der gemeinsame Nenner ist, dass er alle Bilder mit einer 1/8 Sekunde Belichtungszeit geschossen hat.


Thomas Gerwers: Hat er dazu eine Erläuterung gegeben?
SWAN Magazine: Als ich ihn in Berlin traf, habe ich ihn nach diesem Titel gefragt. Er meinte, „Diese Bilder sind eigentlich keine Fotos. Das sind Kurzfilme!“. Und genau das passt in meinen Augen sehr gut zu dem, was Du beschrieben hast. Jim ergänzte: „Durch die längere Belichtungszeit kommen mehr Informationen ins Bild, als das gleiche Motiv zeigen würde, wenn es mit einer 1/125 Sekunde belichtet worden wäre.“ Und auch ihm ging es darum, den Bildern die brutale Schärfe zu nehmen.
Thomas Gerwers: Genau. Darum geht es! Es gibt Aspekte des Lebens, die mehr im Schatten als im Licht liegen. Unentdecktes.
SWAN Magazine: Ich habe da eine vage Idee, was Du meinst…
Thomas Gerwers: Es geht mir dabei um Ebenen. Es gibt Dinge in der Fotografie, die offensichtlich dargestellt werden. Und es gibt dunkle Teile in Bildern, die keine klare Zeichnung haben, Raum für Interpretation lassen und uns dazu anregen, das Bild in unserer Vorstellung zu vervollständigen. Reflektion bringen neue Bildelemente ins Spiel …

SWAN Magazine: Als Fotograf muss man solche Momente aber auch sehen. Gerade Spiegelungen gibt es viele, aber trotzdem sind sie nur Teil von verhältnismässig wenigen Bildern.
Thomas Gerwers: Wenn ich mit der Kamera unterwegs bin, suche ich gerne nach solchen Chancen, weil sie ein Bild dazu bringen, mehr zu erzählen. Und sobald ein Bild mehr erzählt, beschäftigen sich die Betrachter länger damit …
SWAN Magazine: Lass uns dazu ein Bild aus Deiner Serie zur Hand nehmen: Du hast einen Bahnsteig fotografiert. Du selbst stehst in der Mitte und rechts und links stehen Menschen, die auf den Zug warten. In der Mitte des Bildes gibt es eine Säule, auf der ein Plakat zu sehen ist. Schaut man nur flüchtig auf das Motiv, könnte man meinen, dass es sich um eine Collage aus drei Einzelbildern handelt. Erst wenn man länger auf das Motiv schaut, wird klar, dass die drei Bildelemente drei Ebenen sind, wo die Menschen nichts miteinander zu tun haben, obwohl sie dort unmittelbar nebeneinander, ja sogar auf einem Bild zusammen zu sehen sind.
Spannend finde ich das Motiv unter Beachtung der Belichtung. Die Bildmitte geht in Richtung Überbelichtung, rechts der Teil versinkt aber in Dunkelheit. So stark sogar, dass ich – einzeln betrachtet – dazu tendieren würde, „leider falsch belichtet, Papierkorb“ zu sagen. Aber alle drei Ebenen zusammen wirken durch die unterschiedliche Belichtung nochmals stärker. Wer sich auf das Motiv einlässt, wird es vermutlich lange betrachten und nach weiteren Details suchen.
Thomas Gerwers: Die Andersartigkeit der Bildteile sorgt in meinen Augen übrigens auch dafür, dass der Betrachter nicht schnell zu dem Ergebnis kommt „kenne ich schon, weiter“. Fotos dürfen überraschen.

SWAN Magazine: Unbedingt. Überraschung ist das Salz der Suppe. Ich würde unser Interview gerne schliessen mit einem Zitat aus dem Begleittext zu der uns vorliegenden Serie: „Whispers of the Singular wirft die Frage auf, ob die Einsamkeit ein Symptom unserer modernen Zeit ist, oder ob sich die Menschheit schon immer leise flüsternd durch die Menge bewegt hat.“
Thomas Gerwers: Und was ist Deine Frage dazu?
SWAN Magazine: Dazu komme ich jetzt. Vorher würde ich dieses Zitat aber gerne mit einer Aussage von eben kombinieren, nämlich dass man in Fotografien stets auch etwas von dem Menschen spüren sollte, der hinter der Kamera stand. Bist auch Du von der von Dir beschriebenen Einsamkeit betroffen?
Thomas Gerwers: In meinen Augen ist und war die Einsamkeit schon immer Teil des menschlichen Lebens. Die Einsamkeit wird durch die ständige Verfügbarkeit von Technologie einfach nur verstärkt und bekommt damit mehr Raum. Wir haben das Gefühl, dass wir dank moderner Technik mit viel mehr Menschen vernetzt sind. Aber sind wir das wirklich? Sind es nicht nur viel mehr oberflächliche Kontakte und ist es netto nicht mehr Zeit, die wir alleine mit dem Smartphone verbringen?


SWAN Magazine: Spannende These. Hast Du noch eine für uns?
Thomas Gerwers: Wir dürfen nicht für Likes fotografieren!
SWAN Magazine: Wir dürfen schon, aber es macht keinen Sinn …
Thomas Gerwers: Ich möchte dir Danke sagen für die Zeit, die du dir genommen hast, um meine Bilder zu entdecken und zu interpretieren und dafür, meine Gedanken zu dieser Serie und zur Fotografie im Allgemeinen teilen zu dürfen. Wenn ich damit bei euren Lesern den einen oder anderen Impuls setzen kann, freut mich das.
SWAN Magazine: Sehr gerne, Thomas. Doch nun ist es an der Zeit für Deinen Schlusssatz. Ein kleiner Tusch für Dich vorab!

Thomas Gerwers: Miles Davis hat gesagt: „It is not the notes you play. It’s the notes, you don’t play.“ Für die Fotografie gilt dasselbe: Das Sichtbare braucht das Unsichtbare, um seine volle Bedeutung zu entfalten.
SWAN Magazine: Eine wundervolle Metapher. Ich freue mich auf ein persönliches Wiedersehen! Danke Dir für Deine Zeit!
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